Deutschland liegt in der Mitte Europas. Als geografischer Raum, der seit Jahrtausenden von Menschen und kulturellen Einflüssen durchwandert wird, bietet sich das Land quasi an, um Transkulturalität ganz praktisch zu erklären. Im folgenden also eine Reise durch die Unschärfe deutscher Grenzen, die Vermischung von Menschen und Durchdringung von Sprachen und Kulturen. Deutschland transkulturell

Im 21.Jahrhundert ist vom historischen Ende einer Fiktion von homogenen Nationalstaaten und von sprachlich und kulturell homogenen nationalen Bildungssystemen auszugehen, schreibt Christel Adik. Die jüngeren Kultur- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich daher explizit mit der Ambivalenz und der Vielschichtigkeit von räumlichen und kulturellen Grenzziehungen. Sie zeichnen die Widersprüchlichkeiten vermeintlich klar definierter Raum- und Kulturkonzepte nach und versuchen, Eindeutigkeiten als Mythen zu entzaubern. Trennlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden werden brüchig – steckt nicht in jedem etwas von einem Migranten, einer Migrantin?1

Im folgenden wird Deutschland transkulturell portraitiert: historisch, räumlich, sprachlich, menschlich, kulturell


Gibt es eine deutsche Geschichte?

 

Nach Ernest Renan besteht eine Nation in dem Bewusstsein, in der Vergangenheit große Dinge gemeinsam getan zu haben und andere in der Zukunft tun zu wollen. Für beides braucht die Nation die Geschichte, bzw. eine nationale Geschichtserzählung. Doch gerade Deutschland fehlt es zeitlich betrachtet an Kontinuität und räumlich an Mitte und festen Grenzen.

Zeitlich betrachtet gibt es Deutschland als Nation erst seit Beginn des 19.Jahrhunderts (nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon). Als Nationalstaat erst seit 1871. Vorher gab es keine deutsche Geschichte! Vorher gab es Mitteleuropa. Mitteleuropa kannte kein nationales Gebilde namens Deutschland.

Die ersten Deutschen kommen aus Afrika

In Afrika entwickelte sich der heutige Mensch ( genannt Homo sapiens). Er breitete sich vor ca. 100.000 Jahren aus Südafrika (Viktoriasee-Region) nach Asien und Europa aus. Nach Nordeuropa und auch in den Raum des heutigen Deutschlands sickerten die ersten „echten“ Menschen vor 40.000 – 35.000 Jahren aus Afrika ein und überlebten die europäische Menschenform, den Homo Neanderthalensis, die ihrerseits ausstarb.

Die längste Zeit der Geschichte war Deutschland Nomadenland

Als in Mesopotamien bereits die Kultur der Sumerer blühte (Mittlere Steinzeit 10.000-4000v. Chr.) durchzogen Sammler und Jäger das Gebiet Nordeuropas und damit auch des heutigen Deutschlands. Die längste Zeit in der Geschichte (80.000-90.000 Jahre) lebte der Mensch als Jäger und Sammler. Jäger und Sammler-Gemeinschaften suchten sich weitgehend eine Lebensumwelt, die ergiebig war und für die Versorgung mit Nahrungsmitteln ausreichte. Sie wanderten mit den Jahreszeiten, Tierherden, Fischschwärmen und mussten weiter ziehen, wenn die Nahrungsvorräte in einer Gegend erschöpft waren oder ihre Beutetiere selbst weiter zogen. Die längste Zeit in der Geschichte lebte der Mensch ohne festen Wohnsitz.

Der Germanen-Mythos

Später formten sich in Mitteleuropa einzelne Stämme und Stammesverbände. Auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands gab es aber KEIN einheitliches Volk, KEINEN einheitlichen Stamm, KEINE einheitliche Ethnie. Es gab weder eine deutsche „Urbevölkerung“ mit angestammten Rechten noch eine deutsche „Urkultur“. Das die Germanen die „Ur-Deutschen“ gewesen sein sollen, ist nationale Mythologie, die sich das frischgeborene Kaiserreich im 19.Jahrhundert entwarf, um sich eine lange historische Legitimation zu geben. Die Forschung hat heute freilich längst nachgewiesen, dass es im Zuge der sogenannten Ethnogenesen – der Entstehungsprozesse wandernder Völker – zur Verschmelzung unterschiedlicher ethnischer Gruppen gekommen ist.2 An der Bevölkerungsbildung in Mitteleuropa waren nicht nur germanische Stämme und Stammesverbände, wie die Alamannen, Burgunden, Franken, Goten, Sachsen, Thüringer, Friesen usw. beteiligt, sondern auch keltische, slawische und andere Ethnien und Stämme. Nehmen wir nur die bunte Mischung, die in Bayern entstanden ist. Vermutlich haben sich die Bajuwaren (die ursprüngliche Namensform der Baiern) in einem Verschmelzungsprozess aus Elb- und ostgermanische Kleinstämmen, keltischer Urbevölkerung, ansässigen Römern, alemannischen, fränkischen und thüringischen, ostgotischen und langobardischen Flüchtlingen sowie Nachkommen germanischer und anderer Söldner der dort früher stationierten römischen Grenztruppen gebildet.

Das Mittelalter kannte kein Deutschland

Auch das Mittelalter wurde im Kaiserreich eingedeutscht. Der Mythos von „deutschen Kaisern“, dem „deutschen Reich“, der „deutschen Mittelalter-Architektur“ wurde aufgebaut. Es gab aber kein deutsches Mittelalter! Im Mittelalter gab es mitteleuropäische Territorialstaaten, die aus Stammesverbänden hervorgegangen waren. Alle hatten ihre eigenen Stammesdialekte. Zwar gab es zeitweise eine mal stärkere und mal schwächere transterritoriale Herrschaftsform, das Kaisertum, aber Mitteleuropa war trotzdem politisch gesehen bis 1815 ein kleinteiliger Flickenteppich vieler einzelner Herrschaftshäuser.

Deutsche Geschichte als Teil europäischer Geschichte

Hagen Schulze hinterfragt, in seiner kurzen, aber bemerkenswerten Schrift “Gib es überhaupt eine Deutsche Geschichte?” die Konstruktion einer deutschen Nationalgeschichte. Er kommt zu dem Schluss, das man “deutsche Geschichte” bis zum 19.Jahrhundert nicht allein national beschreiben kann sondern: “dass die Geschichte dieses Raums mit seinen vielfältigen, verwirrenden, einander überlagernden politischen Strukturen nur im Zusammenhang mit der Geschichte ganz Europas zu begreifen ist.”3

20.Jahrhundert: german history = global history

Aus historischer Perspektive kann man Deutschland und die deutsche Geschichte aber auch im 20. und 21. Jahrhundert nicht getrennt vom Rest Europas, ja vom Rest der Welt betrachten. Stärker denn je ist die Geschichte des deutschen Staates mit der globalen Geschichte verwoben: zwei WELTkriege, die europäische Strömung des Faschismus, der Einfluss des sich weltweit ausbreitenden Kommunismus, die globalen Siegermächte, die die Nachkriegsgeschichte Deutschlands gestalten, der kalte Krieg der Blöcke, der die Mauer in Deutschland entstehen lässt, Solidarność in Polen, Perestroika in Russland und die Grenzöffnung in Ungarn, welche sie wieder fallen lassen … Deutschland in Europa …

Deutsche Geschichte ist nicht von der Europas zu trennen. Die Postulate der Transkulturalität: Unschärfe und Durchdringung sind damit ein Wesensmerkmal der “Geschichte der Deutschen”.


Wo ist Deutschland?

 

Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Schiller 1796

Welcher Raum ist denn deutsch? Wo fängt Deutschland an, wo hört es auf? Grenzen sind nicht dauerhaft, sondern wandeln sich! Ist deutsch, was sich  in den Grenzen des ersten deutschen Nationalstaats, des Kaiserreichs ab 1871 befand? Also auch Namibia, Togo, Kamerun, das chinesische Kiautschou oder St. Thomas in der Karibik? Und Österreich, ist Österreich deutsch?

Kaum einer würde Deutschland auf alle Territorien beziehen, die 1941 unter der Herrschaft von Nazi-Deutschland waren. Aber was ist mit dem Sudetenland, Böhmen, Elsass, großen Teilen des heutigen Polens? Noch 1972 forderte die CDU im Bundestag Deutschland in den Grenzen von 1937. Damals existierten noch zwei deutsche Staaten. Deutschland, wie wir es heute verstehen, ist in seinen Grenzen erst 1990 entstanden!

Die folgende Kartenanimation zeigt die sich ständig verändernden Grenzen der Europäischen Mächte und Staaten. Es wird deutlich das es keinen beständigen “deutschen Raum” gab, eher Herrschaftsräume verschiedener Art und Ausdehnung, die ab dem 19.Jahrhundert mit der nationalstaatlichen Idee verbunden wurden …

Deutsche Beschriftung in Wrocław, dem ehemaligen Breslaunicht alle akzeptieren die heutigen Grenzen Deutschlands

Reiseführer in das andere Deutschland


Deutsche Sprache

 

1813 dichtete Ernst Moritz Arndt in seinem Vaterlandslied:
Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist’s Preußenland? Ist’s Schwabenland?
Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht?
Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht?
O nein, nein, nein!
Sein Vaterland muss größer sein!

schließlich kommt dann in der siebenten Strophe der Vorschlag:

So weit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt:
Das soll es sein! Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!

Wir haben gesehen, dass historische und politische Grenzen uns nicht genau sagen können, was nun genau zu Deutschland gehört. Arndt schlägt hier ein kulturelles Kriterium vor, um den deutschen Raum zu benennen: die deutsche Sprache.

Sprache als einzige kulturelle Gemeinsamkeit

Das Wort “deutsch”, dass sich im 8. und 9. Jahrhundert in Mitteleuropa verbreitete, bedeutete einfach “Volkssprache”. Damit war keine einheitliche Sprache gemeint, sondern eine Vielfalt von germanischen Stammesdialekten, die sich vom Latein der Gelehrten und von den romanischen und slawischen Sprachen Europas unterschieden. Dennoch ist die deutsche Sprache seit dem Mittelalter die einzige Grundlage einer zusammenhängenden kulturellen Tradition innerhalb eines territorialen Flickenteppichs in Mitteleuropa.

Sprache und Nation

Wenn die Sprache aber als nationales Kriterium aufgerufen wird, dann werden automatisch auch Österreich, Teile der Schweiz und das Elsass, sowie viele kleine Sprachinseln (besonders in Osteuropa) mit eingefordert. Historisch haben diese Regionen, die mit Deutschland im Sinne einer gemeinsamen Sprache verbunden sind, aber andere Erfahrungen gemacht. Die Schweiz z.B. versteht sich als Eid-Genossenschaft verschiedener Regionen mit zum Teil sehr unterschiedlichen unterschiedlicher Sprachen.

Es ist aber festzustellen, dass auch die deutsche Sprache keine klar abgrenzbare Entität ist und wie jede Kultur auch prozesshaft, hybride und durchdrungen von vielen anderen Sprachkulturen ist.

Gibt es eine verbindliche deutsche Sprache?

Nach dem transkulturellen Konzept von Wolfgang Welsch differenziert sich eine (Sprach-)Kultur in sich selbst noch einmal so weit aus, das es schwer fällt da noch an eine kulturelle Einheit zu glauben. Betrachtet man diese binnenkulturellen Differenzierungen, gibt tatsächlich nicht ein “deutsch”, sondern viele verschiedene.
Dialektvielfalt

Sprachliche Binnendifferenzierungen

Im Mittelalter bestanden auf dem Gebiet der später deutschsprachigen Länder und der Benelux-Staaten verschiedene germanische Stammesverbände. Es waren die Stämme der Alemannen, Bajuwaren, Franken, Friesen, Sachsen und Thüringer. Alle diese Stämme besaßen ihre eigenen Sprachen, die Stammessprachen. Diese waren zwar miteinander verwandt, aber es dürften große Unterschiede zwischen ihnen bestanden haben. Bis heute prägen Dialekte bzw. Mundarten die einzelnen Regionen Deutschlands: Da gibt es die Niederfränkischen Mundarten, Niederdeutsche Mundarten (Plattdeutsch, Brandenburgisch, Berlinerisch), Mitteldeutsche Mundarten (fränkisch und thüringisch-obersächsisch), Oberdeutsche Dialekte (Alemannisch und Bairisch) und und und … Zu hören sind viele dieser sehr unterschiedlichen Mundarten unter: http://www.dialektkarte.de
Dialektkarte zum hören verschiedener deutscher Dialekte
Umfangreiche Hintergründe zu den einzelnen deutschen Dialekten und Mundarten, findet man im Dialektatlas der deutschen Welle
Hintergrundinformationen zu deutschen Dialekten

Deutsche Sprachvielfalt

Die deutschen Dialekte sind übrigens eng mit den niederländischen verwandt, da die Staatsgrenzen keine Dialektgrenzen darstellten. So werden Varianten des Niedersächsischen auch im Osten der Niederlande gesprochen.

Sprachvarietäten und Übergangsdialekte

Da sich Kulturen und auch Sprachkulturen durchdringen, entstehen auch an den Grenzen Deutschlands, bzw. des deutschen Sprachraums Übergangssprachen, bzw. sehr eigene Dialekte. Übergangsdialekte die zwar auf Varietäten innerhalb des Dialektkontinuums der deutschen Mundarten zurückgehen, jedoch heute nicht oder nur in eingeschränktem Maße von der deutschen Standardsprache überdacht werden, können offiziell nicht zum „Deutschen“ im engeren Sinne des Wortes gerechnet werden. Sie sind aber mit dem deutschen verwand bzw. können als Varianten der deutschen Sprache gesehen werden.

  • Luxemburgisch ist eine moselfränkische Sprachvarietät des Westmitteldeutschen und wird im Fürstentum Luxemburg gesprochen.
  • Kollumerpompsters, ein Übergangsdialekt zwischen der westfriesischen Sprache und dem niedersächsischen Gronings. Es wird trotz des starken friesischen Einflusses zum Niedersächsischen gerechnet.
  • Elsässisch sind die im Elsass verbreiteten alemannischen und fränkischen Dialekte des Oberdeutschen.

Die schweizerdeutschen Dialekte hingegen sind trotz vielfältiger einheitlicher Merkmale und einer starken Verwendung im Schriftlichen nicht als einheitliche Sprache etabliert. Das Standarddeutsche Österreichs, der Schweiz und Deutschlands sind Varietäten derselben Standardsprache.

Deutsche Wander-Sprachen

Da sich der deutsche Raum immer wieder verschoben hat und Menschen seit Jahrhunderten mit der deutschen Sprache auf Wanderschaft gingen, haben sich sehr interessante Sprachvariationen, bzw. eigene, vom deutschen abstammende oder beeinflusste Sprachen herausgebildet: Das Jiddische, das ursprünglich auf das Mittelhochdeutsche zurückgeht, sich jedoch vor allem unter slawischen und hebräischen Einflüssen eigenständig weiterentwickelt und eine eigene Schriftsprache ausgebildet hat, und die lexikalisch auf dem Deutschen basierende Kreolsprache Unserdeutsch werden heute in der Sprachwissenschaft im Allgemeinen nicht zum Deutschen gerechnet, sondern als eigenständige Sprachen betrachtet.

  • Plautdietsch ist zum Beispiel die Sprache der Russlandmennoniten. Es ist eine niederpreußische Varietät des Ostniederdeutschen, die sich im 16. und 17. Jahrhundert im (heute polnischen) Weichseldelta herausgebildet hat. Weltweit sprechen etwa 500.000 Menschen Plautdietsch, in Deutschland haben etwa 200.000 Menschen eine plautdietsche Herkunft. Der größte Teil von ihnen ist in den 1990er Jahren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eingewandert. In Lateinamerika gibt es etwa 100.000 einsprachige Plautdietsch-Sprecher.
  • Pennsylvania Dutch ist eine hauptsächlich auf pfälzischen Dialekten aufbauende Sprachvariante der deutschen Sprache in Nordamerika. Sie wird von mehreren hunderttausend Angehörigen der Pennsylvania Dutch bzw. ihren Nachfahren in Sprachinseln heute vor allem in den US-Bundesstaaten Pennsylvania, Ohio und Indiana sowie im kanadischen Ontario gesprochen. Eine Besonderheit des Pennsylvania Dutch ist es, dass Lehnwörter aus dem amerikanischen Englisch, meist wie deutsche Wörter benutzt werden, d. h., Verben und Adjektive werden deutsch flektiert (z. B. englisch „to farm“ erscheint als ich hab gefarmt).
  • Jiddisch ist eine rund tausend Jahre alte Sprache, die von den aschkenasischen Juden in weiten Teilen Europas gesprochen und geschrieben wurde und von einigen ihrer Nachfahren bis heute gesprochen und geschrieben wird. Es ist nach allgemeiner Meinung eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, romanischen, slawischen und weiteren Sprachelementen angereicherte Sprache und ein sehr gutes Beispiel für die Transkulturalität von Sprachkulturen.
  • Unserdeutsch ist die Sprache der Minderheit der Rabaul-Kreolen und die weltweit einzige deutsch-basierte Kreolsprache. Ursprünglich während der Kolonialzeit in Papua-Neuguinea entstanden und bis in den Nordosten Australiens und im Westen von Neubritannien (ehemals Neupommern) verbreitet, ist Unserdeutsch mittlerweile so gut wie ausgestorben: Die Sprache wird heute noch von etwa hundert Menschen gesprochen.

Unserdeutsch als einzige deutsch-basierte Kreolsprache

Deutschland ist Mehrsprachig

Auf der anderen Seite werden im heutigen Deutschland auch Jahrhunderte alte Minderheitssprachen gesprochen, wie etwa das Friesisch, Dänisch oder das slawische Sorbisch. Historisch gesehen sind das doch im Grunde auch “deutsche Sprachen” – oder?

Deutsche Wörter mit Migrationshintergrund

Die Sprache ist immer ein Spiegelbild der Gesellschaft. In der Sprache zeigen sich sowohl die kulturellen Einflüsse einer Zeit oder Epoche als auch Macht- und Mehrheitsverhältnisse. Oft zeugen die Wörter aber selbst von der Herkunft der bezeichneten Tatsache. Wörter eignen sich aus sehr gut für die Vermittlung von Transkulturalität bzw. Migrationspädagogik. Sie zeigen deutlich, wie vielfältig zusammengewandert und durchdrungen, durchflossen diese “deutsche” Sprache und Kultur ist. Im deutschen Sprachwortschatz gibt es nicht nur griechische und lateinische “Lehnwörter”, sondern auch Wörter aus dem Amazonas und natürlich so einige Anglizismen, die heute wie selbstverständlich zur deutschen Sprache gehören. Mehr zu deutschen Wörtern mit Migrationshintergrund
Sprachverwandschaften

Zwei deutsche Staaten – zwei Sprachen?

Auch die politische Realität der Nachkriegszeit, der Teilung “Deutschlands” in BRD und DDR hatte sprachkulturelle Auswirkungen. In der Ostdeutschland gab es sprachliche Erscheinungen, die in Lexik und Stilistik nur oder besonders in der Deutschen Demokratischen Republik gebräuchlich waren. Dieses betraf sowohl Begriffe der Alltagssprache als auch staatlich definierte oder in den Medien verwendete Ausdrücke. In der DDR wurden Wörter aus dem deutschen Sprachraum oft erst dadurch typisch, indem sie zu neuen Formen verbunden wurden und eine neue Bedeutung erhielten wie etwa Volk und Buchhandlung zu Volksbuchhandlung, oder Held und Arbeit zu Held der Arbeit. Dabei waren die neuen Formen oft Übersetzungen aus dem Russischen. Beispiele dafür sind stennaja gaseta übersetzt zu Wandzeitung oder dom kulturyj übersetzt zu Haus der Kultur (später entwickelt zu Kulturhaus). Einen Eindruck vermittelt Wikipedia-Wörterliste des DDR-Sprachgebrauchs.
Übersetzung vom DDR-Deutsch ins Deutsche

Weitere Sprachkulturen in Deutschland

Weil jeder Mensch in Deutschland noch vielen anderen kulturellen Gruppen angehört, und diese oft ihre eignen Sprach- und Verständigungsformen entwickeln, bzw. ausdifferenzieren, gibt es so viele verschiedene Formen “Deutsch” zu sprechen, wie es Kollektive in Deutschland bzw. deutschsprachige community’s gibt. Hier ein paar Beispiele:

Jugendsprachen: DIE Jugendsprache gibt es nicht. Bei der Jugendsprache handelt es sich vielmehr um eine Sprache, die sich unter Jugendlichen gebildet hat, die Gruppen sowie regionalen Sprachunterschieden unterliegt und sich im permanenten Wandel befindet. Besondere Merkmale der Sprache sind u.a. fremdsprachliche Anleihen meist aus dem Englischen (Bsp: Burner), Bedeutungsverschiebungen (Bsp: porno) sowie eine erhebliche Portion Kreativität, die sich in zahlreichen Wortneuschöpfungen widerspiegelt. Mittlerweile gibt es sogar das ein oder andere Wörterbuch der Jugendsprache im Handel zu kaufen.

Berufssprachen: Auch wenn alle Berufsgruppen deutsch sprechen, so unterscheiden sich die benutzen Ausdrücke, Begriffe und Wendungen von Berufsgruppe zu Berufsgruppe doch gravierend. Die sogenannte Fachsprache trennt verschiedene Berufs- und Ausbildungsgruppen der Gesellschaft voneinander. Beispiele sind: Bergmannssprache, Druckersprache, Handwerkersprache/Handwerkssprache, Jägersprache, Kaufmannssprache, Seemannssprache, Soldatensprache, etc. Weil Patienten die Medizinersprache der sie behandelnden Ärzte oft nicht verstehen können, hat sich z.B. das Online-Projekt “was hab ich?” etabliert, in welchem ärztliche Befunde von Medizinstudenten kostenlos in eine leicht verständliche (deutsche) Sprache übersetzt werden.

Kietzdeutsch: Diese “Sprache”  wird in erster Linie von Jugendlichen gesprochen und ist damit auch eine interessante Blüte einer speziellen Jugendkultur bzw. eines besonderen urbanen Milieus. Das Besondere an Kiezdeutsch ist, dass sich die Jugendsprache im Kontakt unterschiedlicher Sprachen (und Herkunftskulturen) entwickelt hat. Mehr dazu unter https://kulturshaker.de/kiezdeutsch/

Hip-Hop-Jargon: Für Menschen, die keinen Bezug zu Hip-Hop haben, ist er oft schwer zu verstehen. Wenn man von Hip-Hop spricht, muss man zwangsläufig auch über andere Subkulturen wie Rap, Breakdance sowie die Graffiti- und Sprayer-Szene sprechen, die sich im Hip-Hop vereinigen und eine gemeinsame sprachliche Basis bilden. Der Hip-Hop hat seinen Ursprung in den sozialen Unterschichten der USA. Heute ist er eine weltweit bekannte Subkultur in einem Milliarden-Markt. Die sprachlichen Ausprägungen sind vielfältig und von Anglizismen geprägt – die Übergänge zur Jugendsprache oft fließend. Für manche Anglizismen haben sich im Laufe der Zeit deutsche Entsprechungen gefunden. Sprühdosen zum Beispiel werden nicht mehr unbedingt als „cans“ bezeichnet, sondern äquivalent als „Kannen“. Hier gibt’s ein Verzeichnis Deutsch/HipHop.
Deutsche Lyrik


Wer ist deutsch?

 

    • Der Sohn eines Flüchtlings, der in Deutschland geboren wurde?
    • Ein Kind eines ehemaligen türkischen Gastarbeiters?
    • Die dänische Minderheit in Südschleswig?
    • Ein sorbischer Junge aus dem Spreewald?
    • Die Kinder eines nach Argentinien geflohenen SS-Manns?
    • Die deutschsprachigen belgischen Staatsbürger (ca. 75.000)?
    • 400.000 Bürger Polens deutscher Nationalität?
    • Die deutschsprachige Südtiroler (300.000), Zimbern, Walser, Kanaltaler?
    • Die Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Sathmarer Schwaben, Landler, Regatsdeutschen oder die Zipser?
    • Die Nordschleswiger in Dänemark? Die Elsässer und Lothringer?
    • Karpatendeutsche, Deutschböhmen, Russlanddeutsche, Ungarndeutsche?
    • Deutschnamibier, Bosporus-Deutsche, Mennoniten etc.?
    • 22.000 Deutsche auf Mallorca, 36.000 Deutsche auf den Kanaren ?

Wenn Deutschland räumlich und historisch nicht klar definiert werden kann, wie können wir dann Menschen nationalisieren und mit dem Prädikat “deutsch” versehen? Der moderne deutsche Staat hat gesetzliche Kriterien, um festzulegen, wer Staatsbürger_in ist oder werden kann. Aber im Sinne einer deutschen Kulturgemeinschaft, ist es sehr schwer zu definieren, wer z.B. deutsche_r Künstler_in ist und wer nicht.

Die folgende Sammlung versteht sich als Denkanstoß. Sie zeigt verschiedene Künstler und ihre Migrationshintergründe. Im Sinne der modernen Wahrnehmung von Migrationsgesellschaft sind das alles deutsche Künstler (mit multiplen Identitäten).Deutsche Künstler

Ludwig van Beethovens väterliche Vorfahren stammten aus Mecheln im flämischen Brabant (heute Belgien). Er wuchst in Deutschland auf und starb in Wien im Kaisertum Österreich.

Adelbert von Chamisso wurde in Frankreich geboren und floh mit seiner Familie vor den Revolutionsheeren als Kind nach Berlin. Er hat die französische Staatsangehörigkeit nie aufgegeben. Robert Fischer bezeichnet ihn in seiner Biografie als „frühen Bürger Europas“, der „die Gegensätze zweier Nationen erfahren und in seinem Leben zu vereinen“ gesucht habe. Der bisher einzige Literaturpreis für deutschsprachige Migrantenliteratur trägt seinen Namen. Mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung werden Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Muttersprache ausgezeichnet.

Heinrich Heine wurde in Düsseldorf als Sohn jüdischer Eltern geboren. Er wuchs in einem vom Geist der Haskala – der jüdischen Aufklärung – geprägten Elternhaus auf. Im „Dritten Reich“ waren Heinrich Heines Werke verboten, obwohl Heines Loreley-Lied zu den berühmtesten deutschen Dichtungen gehört.

Günter Grass ist der Sohn eines protestantischen Lebensmittelhändlers und einer Katholikin kaschubischer Abstammung und verbrachte seine Kindheit in Danzig, das heute zu Polen gehört.

Roberto Blanco wurde als Sohn kubanischer Eltern in Tunis geboren. Er wuchs in Beirut und Madrid auf und kam 1956 nach Deutschland und ist hier ein erfolgreicher Schlagersänger, Schauspieler und Unterhaltungskünstler.

Wladimir Kaminer ist ein deutscher Schriftsteller und Kolumnist russisch-jüdischer Herkunft. Seine Erzählbände Militärmusik und Russendisko machten ihn weit über die Grenzen Deutschlands hinweg bekannt. Kaminer schreibt seine Texte in deutscher Sprache und nicht in seiner Muttersprache Russisch.

Migrationsgesellschaft Deutschland

Das Gebiet des heutigen Deutschlands ist historisch gesehen ein zentraleuropäischer Wanderungsraum gewesen. Hier haben sich über die Jahrtausende Menschen verschiedenster Herkunft und Ethnie miteinander vermischt. Wolfgang Welsch, der Vater der deutschen Transkulturalität, zitiert in seinen Texten gerne Carl Zuckmayer, der in seinem Nachkriegs-Drama “die Völkermühle” Deutschland mit folgenden Worten beschreibt:

Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen.4

Bis heute hat sich an der Tatsache der Vermischung und Durchdringung von Herkunftskulturen in Deutschland nichts geändert. Der gesellschaftlicher Realität der kontinuierlichen Einwanderungsgesellschaft und damit auch einer Unschärfe nationaler Kultur bzw. multipler Identitäten wird in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft jetzt immer mehr Rechnung getragen. Wir verabschieden uns von dem Bild klar beschreibbarer nationaler Identitäten.

Mehr als “deutsch”

In vielen gesellschaftlichen Bereichen, wie z.B. im Sport, stellt sich immer wieder die Frage nach der nationalen Zugehörigkeit, bzw. Identität. Die transkulturelle Antwort auf die Frage ist Multikollektivität. Menschen in Deutschland können gleichzeitig Teil verschiedener nationaler und anderer kultureller Kollektive sein. Sie müssen sich weder entscheiden, noch in irgendeiner Form eine besondere “Reinheit” vorweisen.

Minderheiten

In Deutschland gibt es verschiedene Gruppen mit dem Status einer Minderheit. Sie zeigen die kulturelle Binnendifferenzierung auch innerhalb eines einheitlichen Staates auf. Die Minderheiten identifizieren sich zum einen als “deutsch”, zum anderen aber auch mit einer anderen autochonen bzw. nationalen Gruppe auf dem Gebiet des aktuellen Deutschlands.

Die friesische Volksgruppe in Deutschland lebt an der schleswig-holsteinischen Interfrisische FlaggeWestküste und im nordwestlichen Niedersachsen sowie im Kreis Cloppenburg. Geschätzt 60.000 Menschen sind ihrem Selbstverständnis nach Friesen. Je nach Lebensraum heißen sie Nord-, Ost- und Saterfriesen. Die Friesen genießen durch das europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten besonderen Schutz. Ihre Sprachen – die drei friesischen Sprachen und das ostfriesische Platt – sind durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen anerkannt. 1955, erklären die im Interfriesische Rat vertretenen Friesen: Wir gehören mehr als einem Staat an, fühlen uns aber über alles Trennende hinweg als Angehörige eines Volkes, gewohnt und gewillt, unsere eigene Sprache zu pflegen und auszubauen.

Weitere Minderheiten sind die dänische Minderheit, die deutschen Sinti- und Roma, sowie die Lausitzer Sorben. Informationen über diese Gruppen erhält man u.A. über das Minderheitensekretariat.
autochthone Minderheiten & Volksgruppen in Deutschland

Transkulturelle deutsche Identitäten

Sie haben deutsche Pässe und eine deutsche Identität. Sie haben Eltern oder Großeltern aus anderen Ländern und sie haben es satt als Migranten bezeichnet zu werden. Die “neuen Deutschen” oder wie auch immer sie sich selbst nennen sind immer stärker im Netz präsent und zeigen damit offen, was Gesellschaftlich leider noch nicht durchgängig Anerkennung gefunden hat: Deutschland und seine Bürger sind transkulturell.

Denkbar wäre es daher, die „Neuen Deutschen“ einer Ideenwelt zuzuordnen – einer Betrachtungsweise, die mit einem neuen Blickwinkel einhergeht: Deutschland als Einwanderungsland, global player, politisch normativer Friedensakteur. Das postmoderne Deutschland als plurales, multiethnisches, vielfältiges Bürgerland. In diesem Sinne wären die „Neuen Deutschen“ die Bürger eines hybriden, neuen Deutschland, das es in seiner heterogenen Komposition schon längst gibt. Naika Foroutan

Manche kämpfen gegen Rassismus und Ausgrenzung, andere für Anerkennung und ein “neues Wir” in Deutschland. Mehr zum neuen Wir im Netz unter: https://kulturshaker.de/das-neue-wir-in-netz/
https://asiatischedeutsche.wordpress.com/


Was ist deutsch?

 

Ein Sinn wird nur von dem gefunden der ihn sucht. Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge, Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von anderen nichts von uns. Wir spielen immer, wer es weiß ist klug. Arthur Schnitzler „Paracelsius“ 1898

Auf der Suche nach der nationalen Kultur sind wir bei den Kulturgütern angelangt. Sie sind Ausdruck und Konkretisierung der schwer fassbaren “deutschen Kultur”. Ob materielles oder immaterielles Kulturgut, stehen die Kulturgüter im allgemeinen Sprachgebrauch für „etwas, was als kultureller Wert Bestand hat und bewahrt wird“. Somit sagen aktuelle und historische Kulturgüter auch viel über die Gesellschaften aus, die sie für Bewahrens- und Überlieferungswert halten.

Kultur ist wie Wind. Die Basis von kulturellen Orientierungssystemen ist Kommunikation und Aushandlung. Winde lassen sich nicht eingrenzen, Kommuniziert wird über Grenzen hinweg. Ideen, Informationen und Techniken verbreiten sich in Windeseile in alle Himmelsrichtungen. Neue zeitgemäße Wortschöpfungen lassen sich nicht durch Grenzen aufhalten. Eine gute Geschichte, ein erfolgreicher Musikstil, eine Staatsform, eine Art besonders schön zu bauen … grenzenlos!

Seit es Nationen gibt, versuchen diese, diesen Wind zu nationalisieren. UNSERE Dichter, UNSERE Denker, USERE Worte, UNSERE Kulturleistung. Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und ihre Kulturinstitute nehmen Künstler und Kulturleistungen in nationale Haftung. Goethe wird z.B. für Deutschland, welches zu seinen Zeiten noch nicht existierte.

Im folgenden sollen “deutsche” Kulturgüter einmal genauer betrachtet und in Kontext gesetzt werden. Oft genügt allein die Entstehungsgeschichte, um zu zeigen, dass die deutschen Kulturleistungen ohne ein europäisches oder globales Umfeld nicht möglich gewesen wären.

Kulturschaffende als Grenzgänger

Künstler_innen, Wissenschaftler_innen, Herrscher_innen, Denker_innen, waren oft hochmobil, gut und europaweit vernetzt. Viele hatten selbst einen Migrationshintergrund, lebten in verschiedenen Ländern wie (z.B. Franz Liszt) oder lernten durch Studienaufenthalte oder Reisen kulturelle Schätze, Techniken oder Fähigkeiten außerhalb des heutigen Deutschlands kennen.

Mit einem spektakulären Video, hat eine Arbeitsgruppe um Maximillian Schich von der University of Texas die weltweiten Migrationsbewegungen kulturell bedeutender Persönlichkeiten visualisiert. Damit wird sichtbar, was oft unsichtbar bleibt: Kulturschaffende Persönlichkeiten waren und sind hochmobil. Weltweit kristallisieren sich Zentren des Austausch heraus. In Deutschland konkurrierten durch die Jahrhunderte Berlin, München, Hamburg und Köln mit Heidelberg oder Leipzig um die klugen Köpfe aus allen Himmelsrichtungen.

Im folgenden Video markiert ein blauer Punkt den Geburtsort, ein roter den Sterbeort einer berühmten Person:

Hier gibt es eine Liste Deutscher Künstler und anderer Persönlichkeiten mit Migrationserfahrungen. Auch der Maler Albrecht Dürer (abgebildet auf den alten D-Mark Banknoten) war Sohn eines ungarischen Einwanderers. Dürer ist, wie die Schautafel im Dürermuseum Nürnberg verrät, auch viel in Europa unterwegs gewesen, um für seine “deutsche” Kunst europaweit zu lernen …
Dürer transkulturell

Transkulturelle Kulturgüter

Die Nationalisierung von Kulturleistungen und Kulturschaffenden wird selten hinterfragt. Sie dient dem Image einer erfolgreichen Nation nach innen und außen, hebt das soziale Selbstwertgefühl der Staatsbürger und dient nicht selten auch dafür, sich mit anderen Nationen zu vergleichen. Ausdruck nationaler Aneignung ist z.B. die Abbildung von Kulturgütern oder Personen auf den nationalen Banknoten. Als Beispiel sei hier Baltasar Neumann genannt, dessen Lockenkopf den 50 D-Mark-Schein zierte und dessen Residenzbauwerk in Würzburg mit seinem genialen Treppenhaus auf der Rückseite abgebildet war. Wer sich aber genauer mit Architekt und Bauwerk beschäftigt, sieht schnell, dass Neumann eher Europäer als Deutscher und die Residenz eher ein europäisches Bauwerk als ein deutsches Kulturgut ist.
Kulturelle Aneignung auf Banknoten
Baltasar Neumann war ein Baumeister aus Eger (Böhmen/ heutiges Tschechien). Als Wandergeselle reiste er mit fränkischen Truppen nach Österreich und Ungarn. In Wien lernte er auch die richtungweisenden Barockbauten der Zeit, u.a. von Johann Lucas von Hildebrandt kennen und schulte sein architektonisches Gespür an ihnen. Eine Reise nach Mailand brachte ihm wohl auch die Begegnung mit den Werken Guarino Guarinis, die bestimmend für seine spätere genialische Auffassung vom Raum wurden. Stilprägend wurde aber die Auseinandersetzung mit dem Wiener Meister Johann Lucas von Hildebrandt. Im Zusammenhang mit dem Bau der Residenz unternahm er im Auftrag seines fürstbischöflichen Dienstherren eine Studienreise, die ihn über Mannheim, Bruchsal, Straßburg und Nancy nach Paris führte. In Paris festigte er in Kontakt mit Robert de Cotte, dem Ersten Architekten des französischen Königs, die bahnbrechenden Ideen neuer Raumdispositionen. Mit Germain Boffrand zusammen, dem anderen der großen Architekten Frankreichs, entwickelte Neumann in Paris seine Ideen von einem großzügigen Treppenhaus weiter, die ihn später berühmt machen sollten.

Neumann koordinierte die Architekten und Künstler der Residenz, ein Kollegium aus ganz Europa. Darunter: Germain Boffrand aus Frankreich inspirierte die Nebenflügel der Stadtfassade (die Grundrißanlage rezipiert das Versailler Schloß). Johann Oegg, Kunstschmied aus Tirol schuf die kunstvollen Tore und Gitter um den Hofgarten der Residenz. Lukas von Hildebrandt, Wiener Hofarchitekt, prägte das markante Mittelstück von Garten- und Hoffassade und gestaltete die kunstvollen spielerischen Fassaden. Johann Prokop Mayer gebürtiger Böhme, war der europaweit bekannte Lust- und Blumengärtner des Residenzgartens. Giovanni Battista Tiepolo war einer der bedeutendsten venezianischen Maler des ausklingenden Barock. Das Fresko im Treppenhauses der Würzburger Residenz gilt als Hauptwerk des Italieners. Antonio Giuseppe Bossi, aus Porto Ceresio (Lombardei) war Hofstuckateur und schuf zusammen wirkte zusammen mit Jakob van der Auwera aus Mecheln (heutiges Belgien) als Hofbildhauer an der Residenz.

In der Begründung der UNESCO für die Aufnahme in die Liste des „Kultur- und Naturerbes der Welt“ heißt es, die Würzburger Residenz sei das einheitlichste und außergewöhnlichste aller Barockschlösser, einzigartig durch ihre Originalität, ihr ehrgeiziges Bauprogramm und die internationale Zusammensetzung des Baubüros, eine Synthese des europäischen Barock.
Würzburger Residenz_Figurengruppe Raub der Europa

Architektur transkulturell

Doch nicht nur die Würzburger Residenz auch viele anderen Bauwerke auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands werden zu nationalen Aushängeschildern gemacht, obwohl sie deutlich auf Vorlagen aus anderen europäischen Regionen aufbauen…  Beispielhaft soll im Folgenden die Werbung eines südkoreanischen Automobilherstellers für deutsche Baukunst dekonstruiert werden …
Deutsche Baukunst Werbung 2013
Berliner Tor nach griechischem Tempel

Schlosscollage als deutscher Tourismushit
Berliner Fernsehturm nach sowjetischem Sputnik

deutscher Dom nach dem Vorbild einer französischen Kathedrale

Musik transkulturell

Bach hat das Gebiet des heutigen Deutschlands in seinen Lebzeiten nie verlassen. Dennoch ist sein Werk von verschiedenen europäischen, besonders aber italienischen Komponisten beeinflusst worden. Er selbst inspirierte Künstler und Musiker weltweit. Mehr (zum hören) unter Bach transkulturell

Auch heute ist deutsche Musik, bzw. Musik die in Deutschland gemacht wird international beeinflusst. Deutsche Folklore 2016 etwa, wird in diversen Sprachen gesungen und transportiert musikalische Traditionen aus der gesamten Welt. Das Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“ hebt die Musik der Migranten in Deutschland auf die Bühnen dieses Landes. Mehr unter: https://kulturshaker.de/heimatlieder-aus-deutschland/

Deutsche Klassik als weltbürgerliche Strömung

Mit dem Slogan “Deutschland – Land der Dichter und Denker” wird eine Selbstaussage getroffen, die auf der anderen Seite auch eine abwertende Aussage über “die Anderen” enthalten könnte … Gemeint ist damit oft die Weimarer Klassik, welche beim genauen Hinsehen aber auch eher der Ausdruck einer europäischen, als einer nationalen Kulturströmung war, objektiv und im Selbstverständnis ihrer “Dichter und Denker”. Dennoch eignen sich das Goethe-Institut, deutsche Medien, Politik und Kulturschaffende “Goethe & Co”  gerne als “deutsche Dichter und Denker” an …

So hatte die französische Klassik, die französische Hofkultur und Philosophie zusammen mit der Wiederentdeckung der griechischen und römischen Antike mit ihrer Kunst- und Götterwelt einen starken und entscheidenden Einfluss auf die Weimarer Klassik, so wie die Shakespeare-Begeisterung bereits erheblichen (inhaltlichen) Einfluss auf den deutschen Sturm-und-Drang ausgeübt hatte. Somit ist die deutsche Klassik von ihrer Herkunft und auch von ihrem Selbstverständnis her, nie deutsche Volkstümelei gewesen, sondern sieht sich als „weltbürgerliche Strömung“, die gerade aus dem Austausch mit anderen Regionen Europas (Zeitschriftenkultur, Reisekultur, Mehrsprachigkeit, breite Bildung) versucht das wahre und schöne im Menschen zu entdecken.

Keine Nation, am wenigsten vielleicht die deutsche, hat sich aus sich aus sich selbst gebildet […] Bedenk man, dass so wenige Nationen überhaupt … Anspruch an absolute Originalität zu machen haben, so braucht sich der Deutsche nicht schämen, der seine Bildung von außen erhalten hat. So ist doch das fremde Gut unser Eigentum geworden […] ja man müsste ausdrücklich auf die Verdienste fremder Nationen hinweisen […] Der Deutsche hat keine Nationalbildung, er hat Weltbildung.“

Goethe verweist in diesem Zitat auf den wichtigen Fakt, dass deutsche Politik und deutsche Kultur zu allen Zeiten abhängig waren von den Einflüssen europäischer Politik und europäischer Kultur, Einflüsse, die von allen Seiten in die Mitte Europas hineinströmten, dort aufgenommen, zu Eigenem verarbeitet und wieder ausgestrahlt wurden. Goethe selbst hat das Nationale als provinziell und überholt abgelehnt und eher als Weltbürger gedacht und auch noch nach dem Sturz Napoleons, den Franzosen als „mein Kaiser“ bezeichnet. Insgesamt aber war Goethe wohl überraschend unpolitisch. Wenn er sich als Weltbürger sieht, dann vor allem im Bezug auf die Grenzenlosigkeit der Kunst, die er nicht durch ein kleinbürgerliches Nationaldenken eingeschränkt sehen möchte.

Kulturelle Produktionen transnational

Der Außenminister Frank-Walter Steinmeier rief 2014 dazu auf kulturelle Produktionen nicht mehr zu nationalisieren:

Digitale Revolution und Globalisierung fordern zu einer Ergänzung unseres traditionellen Begriffs von Kulturaustausch auf. Vielfach lassen sich kulturelle Produktionen gar nicht mehr national zuordnen, sondern entstehen in der Zusammenarbeit kosmopoliter Akteure, die sich von anderen genauso kosmopoliten Akteuren durch die Besetzung spezifischer künstlerischer oder sozialer Nischen abheben. Hier kann und muss Auswärtige Kulturpolitik neu wirken: durch ihre Angebote zur Verständigung, aber auch und vielleicht vor allem durch Einladungen zur Ko-Produktion, in denen Beiträge aus Deutschland zu konstitutiven Elementen grenzübergreifender künstlerischer Prozesse werden.

Was der Außenminister hier beschreibt, ist der Fakt der Hyperkulturalität. Demnach leben wir in einer Zeit, in der die Quellen kultureller Produktionen nicht mehr klar lokalisiert werden können.


Kultur entwickelt sich weiter

 

Kultur ist nie statisch, immer prozesshaft. Auch die deutsche Kultur wandelt und verändert sich stetig. Waren Kartoffel und Kaffee vor Jahrhunderten noch fremde Genussmittel, so gehören sie heute längst zur Kultur. Vor 15 Jahren war es noch schwer in Deutschland einen Latte Macchiato zu bestellen, heute ist der selbst bei der Deutschen Bahn Standard. In meiner Kindheit vor 30Jahren, wurde Halloween nicht in Deutschland gefeiert, Yoga war kaum bekannt. Heute wächst meine Tochter damit wie selbstverständlich in Deutschland auf …
Halloween - jetzt ein deutsches Fest?Asanas auf dem Bahnhof in Stuttgart


Deutschland – mehr als eine Kultur …

 

Immer wieder kommt es zu Verwirrungen, wenn wir über die “deutsche Kultur” sprechen. Denn Deutschland ist ein Land mit vielen Kulturen. Hier gibt es verschiedene Alterskulturen, Religionskulturen, Freizeitkulturen, Berufskulturen, Genderkulturen, soziale Milieus, politische Kulturen, regionale Kulturen usw. und so fort. Alle diese kulturellen Orientierungssysteme durchdringen ihrerseits die nationale Kultur, bereichern sie mit Worten, Ideen und Werten und werden ihrerseits wiederum stark von der nationalen Kultur, der deutschen Sprache, den nationalen Diskursen etc. geprägt. Deutschland hat viele Kulturen die miteinander interagieren, auch das ist ein Teil der transkulturellen Komplexität unserer Gesellschaft.

Im folgenden zwei Beispiele, die aufzeigen, wie vielfältig Deutschland regional im Bezug auf bestimmte Vielfaltsaspekte (politische Entscheidung und finanzielle Situation) ist.
Politische Vielfalt in Deutschland

Einkommen und Milieus in Deutschland


Hier gibt’s noch mehr Blogbeiträge zu Transkultur bzw. Deutschland transkulturell
Deutschland transkulturell aufdröseln ...


  1. Vgl. Gerald Lamprecht/Ursula Mindler/Heidrun Zettelbauer (Hrsg.), Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne, Bielefeld 2012; Peter Geschiere, The Perils of Belonging. Autochthony, Citizenship, and Exclusion in Africa and Europe, Chicago–London 2009; Transit Migration Forschungsgruppe (Hrsg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007
  2. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 152
  3. Schulze, Hagen: Gib es überhaupt eine Deutsche Geschichte?, Stuttgart 1998, S. 65.
  4. Der Rhein, die Völkermühle, aus „Des Teufels General“ von Carl Zuckmayer.