Menschen sind nicht nur Angehörige eines einzigen (primären) Kulturkollektivs. Vielmehr nimmt jeder  Mensch an vielen kulturellen Orientierungssystemen teil. In Bezug auf einen Menschen muss man also immer von Kulturen anstatt nur von einer Kultur sprechen.

Alter Kulturbegriff   Prämisse der Primärkollektivität

Kultur gleich Nationalkultur

Schaut man sich die Verwendung des Kulturbegriffs vom 19. JahrhundertFolie10 bis heute an, so ist leider festzustellen, dass er überwiegend gleichgesetzt wird mit Herkunftskultur.

Dem Kulturbegriff hängt demnach noch immer die Idee an, dass man in eine Kultur hineingeboren wird. Immer noch, wie bei den alten Blut- und Boden-Theorien, wird auch Kultur mit Ethnie oder Staatsangehörigkeit verbunden. Natürlich ist in der Öffentlichkeit auch mal von muslimischer Kultur, Jugendkultur oder Betriebskultur zu lesen. Auch Pop oder Hip-Hop wird manchmal der Rang einer Kultur zugesprochen; diese wird im selben Atemzug aber implizit der Nationalkultur untergeordnet, in dem man von sogenannten Subkulturen spricht.

Bei der Begegnung spielt nur die Herkunft eine Rolle

Wenn es aber konkret wird und es um Befremdung oder Begegnung geht, scheint nur die Herkunftskultur, vielleicht noch die Religionskultur ausschlaggebend. Ich arbeite seit über 10 Jahren als Trainer in der Begegnungsarbeit. Meine Tätigkeit und die meiner Kollegen aus dem Feld der interkulturellen oder transkulturellen Bildung wird in 99,5% der Fälle angefragt, wenn Menschen ins Ausland gehen, oder aus dem Ausland nach Deutschland kommen, oder wenn es um Konflikte in der Migrationsgesellschaft geht. Sobald also Menschen mit verschiedenen Herkunftskulturen zusammentreffen, scheint Kultur eine Rolle zu spielen. Für andere Begegnungen eher nicht.

Interkulturell meint fast immer International

Den Begriff interkulturell kann man für die meisten Universitäten, Vereine, Fachtagungen und Veröffentlichungen getrost mit international austauschen, ohne inhaltlich irgendwelche Schwierigkeiten zu bekommen.

Prämisse der Primärkollektivität

Individuen werden primär einem Kollektiv (meist einem Land) zugehörig verstanden. Das Problem ist nicht, dass National- und Herkunftskulturen bei einer zwischenmenschlichen Begegnung keine Rolle spielen, sondern dass diese Rolle oft maßlos überschätzt, künstlich aufgeblasen, ja quasi zur einzig ausschlaggebenden sozialen Prägung gemacht wird.

Diese Idee ist vor allem im Alltagsleben so weit verbreitet, dass sie kaum in Frage gestellt wird: In interkulturellen Ratgebern verhandeln Manager grundsätzlich mit „Tschechen“ oder „Chinesen“, ohne weitere Gruppenzugehörigkeiten („Akademiker“ oder “Arbeiter“, „Geisteswissenschaftler“ oder „Ingenieur“, „Thirty-Something“ oder „Rentner“) zu berücksichtigen. Der deutsche Sohn vietnamesischer Eltern mit Prädikatsexamen in Jura und jahrelanger Karriere in der Parteipolitik, selbst nie im Heimatland seiner Eltern gewesen, wird von seinen Interviewpartnern grundsätzlich gefragt, wie er als „Vietnamese“ in Deutschland zurechtkommt. 1

Problematiken der Prämisse der Primärkollektivität

Das Individuum, seine Prägungen, Merkmale, sein Verhalten, scheinen vor allem durch seine Herkunftskultur, durch sein Heimatland, seine Ethnie bestimmt. daraus ergeben sich folgende Probleme:

Primärkollektivität
  1. Individuen werden auf eine einzige kollektive Kultur (Herkunft) reduziert. Damit werden dem Einzelnen andere wichtige soziale Erfahrungen und kollektive Prägungen abgesprochen bzw. ihm gegenüber als weniger wichtig erachtet.
  2. Die monolithische Sicht auf Kultur bewirkt auch in Bezug auf das Individuum eine monolithische Sicht auf Identität. So scheint es notwendig, dass man sich mit seiner Herkunftskultur identifiziert. Lebt der Mensch aber dann in einem anderen Land, bekommt er oder sie ein Identitätsproblem. Mehr als eine Herkunftskultur zu haben, scheint schwierig bis unmöglich zu sein und den Einzelnen/die Einzelne in unauflösbare Widersprüche zu verstricken. Menschen mit Eltern aus verschiedenen Herkunftskulturen oder Kinder mit Migrationshintergrund scheinen damit nie wirklich dazu gehören zu können, oder aber sie müssen sich nach diesem Konzept für eine Kultur entscheiden.
  3. Die Essentialisierung von Herkunft und die Betonung von ethnischer und nationaler Zugehörigkeit wird besonders von nationalistischen und rechten Gruppen benutzt, um Menschen gezielt als “fremd” oder mit der eigenen Gesellschaft “unvereinbar” zu stigmatisieren. Damit werden Menschen, die über viele andere soziale Kollektive mit den Menschen der Gesellschaft verbunden sind, nur wegen ihrer Herkunft immer wieder zu “Anderen” gemacht. Ein Arzt aus dem Iran, Intellektueller, Sozialdemokrat, Fußballspieler, Gärtner und leidenschaftlicher Koch läuft in Deutschland Gefahr, durch die Brille der Primärkollektivität immer wieder zum “Ausländer” gemacht zu werden. Die Prämisse, dass wir uns also vor allem über unsere Herkunft unterscheiden, erschwert Menschen den Zugang zueinander.

Neuer Kulturbegriff   Prämisse der Multikollektivität

Jede soziale Gemeinschaft hat eine Kultur

Kultur, verstanden als Bedeutungs- und Orientierungssystem, als Verabredungen von Codes, Werten und Regeln, ist die Basis jeder menschlichen Gemeinschaft! Auch die kleinsten sozialen Gemeinschaften und Kollektive, z.B. eine Partnerschaft, eine Wohngemeinschaft, eine Familie oder ein Freundeskreis prägen eigene Kulturen und Orientierungssysteme aus.

Menschen sind Teil vieler Kollektive

Eine soziale Gruppe, die die Individuen mit einem gleichen Merkmal zu einer Einheit zusammenfasst, wird Kollektiv genannt (z.B. Kollektiv der Kaffeetrinker). 2

Folgenden Merkmale sind die Grundlage wichtiger Kollektive:

Geschlecht (z.B. weiblich)politische Orientierung (z.B. sozialdemokratisch)
sexuelle Orientierung (z.B. bisexuell)Religion (z.B. alevitische Muslime)
Alter (z.B. Jugendliche)Familie (z.B. Kleinfamilie Schmidt)
Bildungshintergrund (z.B. Azubi)Sportart (z.B. Volleyball)
soziale Schicht (z.B. Mittelschicht)Musikrichtung (z.B. Hip Hop)
Hautfarbe (z.B. hell-rosig)Essgewohnheiten (z.B. Vegan)
Berufsgruppe (z.B. Krankenschwester)körperliche Fähigkeiten (z.B. Brillenträger)
Eigene Herkunft –Kontinent/Nation/Region/Ort/Stadtteil (z.B. Deutscher, Berliner, Kreuzberger, Wrangelkietz)Wohnort (z.B. Hochhaus im Außenbezirk von Würzburg)
Herkunft der Eltern (z.B. Griechenland)Aussehen (z.B. Blonde Haare)

… und es gibt noch viel mehr ….

Wir sind mehr als Herkunft – Multikollektivität

Da wir Menschen gleichzeitig vielen sozialen Gruppen angehören, d.h. nicht nur Deutsche, Portugiesen oder Spanier sind, sondern z.B. auch Frauen, Kampfsportlerinnen, Jugendliche, Studentinnen usw., wird unsere Identität gleichzeitig von mehr als einem Kollektiv bzw. einer Kollektivkultur geprägt. Das nennt man “Mehrfachkollektivität” 3 oder “Multikollektivität”.

Menschen haben viele Kulturen

Nicht nur die Herkunftskultur bietet soziale Orientierung, sondern auch die großen und kleinen Gruppen, denen wir angehören. Wenn jeder Mensch teil vieler Kollektive ist und alle Kollektive auch Kulturen ausbilden, dann gehört jeder Mensch auch gleichzeitig mehreren Kulturen an! Das Wort Kultur, wenn wir es auf die Prägung eines Menschen beziehen, muss also immer im Plural verwendet werden!

Multikollektivität

Überschneidungen der Kulturen

Individuen sind gleichzeitig Teil unterschiedlicher Kollektive, die sich überschneiden können. So kann ich Teil einer christlichen Kultur sein, die sich mit meiner deutschen Kultur überschneidet. Auch meine Familienkultur ist vielleicht von der deutschen und der christlichen Kultur beeinflusst, setzt sich aber dennoch als eigene Kultur von den beiden ab. Rituale und Feste können gute Indizien sein, um kulturelle Überschneidungen deutlich zu machen. So feiert man im Christentum z.B. Weihnachten. Wie und wann das Fest gefeiert wird ist aber von Region zu Region unterschiedlich. So gibt es die Geschenke in Deutschland eher am 24. Dezember, in Frankreich eher am 25. Dezember und in Russland am 7. Januar. Aber auch in Deutschland gibt es verschiedene regionale Varianten des Festes und jede Familie hat dazu noch einmal ihre ganz eigenen Traditionen. Kommt das Christkind oder der Weihnachtsmann? Geht die Familie in die Kirche, oder wird nur zusammen gegessen? usw. …

Zentrale Idee der Multikollektivität ist die Erkenntnis, dass die multiplen und vielfältigen Zugehörigkeiten des Einzelnen ein konstitutives Element menschlicher Existenz bilden. Im Gegensatz zu einem veralteten Kulturverständnis, das Individuen primär einem einzigen Kollektivzusammenhang zuordnete, werden zahlreiche Kollektivmitgliedschaften nicht mehr als Ausnahme oder Störfaktor einer Theorie betrachtet, sondern bilden die Grundlage für ein verändertes Verständnis des Einzelnen und seiner Individualität. Das Besondere hieran ist hier nicht die Erkenntnis der Einzigartigkeit eines Individuums, sondern die Entdeckung, dass diese Einzigartigkeit kollektiv gestützt wird. Die traditionelle Perspektive, dass kollektive Zugehörigkeit auf das Individuum vereinheitlichend wirke, wird aufgegeben zugunsten einer Perspektive, nach der sich die Individualität des Einzelnen gerade aus der Vielfalt seiner Kollektivzugehörigkeiten speist: Wir sind Individuen, nicht trotz, sondern gerade wegen
menschlicher Kollektivität.

Stefanie Rathje 4

Literatur

Rathje, Stefanie: Multikollektivität. Schlüsselbegriff der modernen Kulturwissenschaften, in: Stephan Wolting: Kultur und Kollektiv. Festschrift für Klaus P. Hansen. S. 39-60, Berlin, 2014

weitere Kategorien zum neuen Kulturbegriff

>Durchdringung   >inhaltliche Differenz    >radikale Individualität

  1. Rathje, Stefanie, Der Kulturbegriff – Ein anwendungsorientierter Vorschlag zur Generalüberholung, in: Moosmüller, Alois (Hrsg.), Konzepte kultureller Differenz – Münchener Beiträge zur interkulturellen Kommunikation, München 2009
  2. Begriff aus: Hansen, Klaus Peter (2009): Kultur und Kollektiv. Eine Einführung, Passau, S. 27.
  3. Begriff aus: Hansen, Klaus Peter (2009): Kultur und Kollektiv. Eine Einführung, Passau, S. 196
  4. Rathje, Stefanie: Multikollektivität. Schlüsselbegriff der modernen Kulturwissenschaften, in: Stephan Wolting: Kultur und Kollektiv. Festschrift für Klaus P. Hansen. S. 39-60, Berlin, 2014

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