Warum gilt „interkulturell“ heute, z.B. in der Kulturwissenschaft, als überholt und welche Alternativen gibt es dafür?
Ich bin seit 20 Jahren Trainer in der interkulturellen, transkulturellen, oder diversitätsbewussten Bildungsarbeit. Als ich anfing, habe ich mich als interkultureller Trainer verstanden. Interkulturell war damals schick und modern, heute würde ich mich schämen, mich mit dem Label vorzustellen.
Warum ist „interkulturell“ überholt und was ist daran problematisch?
Mit der Bezeichnung „interkulturell“ schwingt oft ein altes Verständnis von Kultur und Begegnung mit. Kulturen werden als abgrenzbare Einheiten vorgestellt, bei deren Aufeinandertreffen ein zwischenkultureller Lern- und Konfliktraum entsteht. Interkulturalität beschreibt also im Wesentlichen das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, die dann eine spannungsreiche “Zwischenebene”, die “Interkultur” bilden.
Mit der Vorsilbe (inter-) wird die Begegnung von trennbaren Kulturen, zwischen denen etwas stattfinden kann, benannt. Das Problem: Es treffen nie Kulturen aufeinander und klar abgrenzbar voneinander sind Kulturen in der Regel auch nicht!
Kulturen werden nach neueren Kulturkonzeptionen nicht mehr als klar trennbare Einheiten wahrgenommen, sondern vielmehr als wandelhafte hochdynamische Kommunikationsprozesse, die sich gegenseitig durchdringen und nicht klar voneinander abgrenzbar sind. Hier setzt z.B. das neuere Konzept der „Transkulturalität“ an.
Kulturen treffen sich nicht, sondern immer nur Menschen
Menschen sind zwar von Kulturen geprägt, aber sie haben nicht nur eine, sondern viele Kulturen, die bei einer Begegnung eine Rolle spielen. Das nennt man Multikollektivität.
Dazu muss man wissen, dass jede soziale Gruppe eine Kultur (Regel- und Orientierungssystem) ausprägt, ein Pärchen genauso, wie eine Familie, eine Firma oder eine Religionsgruppe. Jeder Mensch ist daher Teil von vielen Kulturen/Kulturgruppen, die ihn prägen.
Bei interkulturellen Ansätzen wird oft davon ausgegangen, dass zwei unterschiedliche Kulturen in einer Begegnungssituation aufeinanderprallen und damit die Begegnung bestimmen.
In Wirklichkeit begegnen sich zwei Menschen, die von vielen unterschiedlichen oder gemeinsamen Kulturen geprägt sind. Neuere Ansätze schenken den einzelnen Kulturen in der Begegnung weniger Beachtung und propagieren eine „radikale Individualität“.
Interkulturell gleich international?
Ein weiteres Problem der Bezeichnung „interkulturell“ ist, dass damit fast immer international gemeint ist. Das heißt es geht meist nicht generell um Kulturen im Sinne einer Multikollektivität, sondern um Nationalkulturen. Als Trainer der interkulturellen Bildung wurde ich jedenfalls immer dann angefragt, wenn es um Auslandsaufenthalte, eine internationale Begegnung, oder aber um das Zusammenleben mit Menschen mit Migrationsbiografien ging.
Da uns viele Kulturen ausmachen, kommt die kulturelle Lern-, Konflikt-, oder Befremdungssituation bei nahezu jeder Begegnung vor. Die Begegnung mit meinem Vater hat ein Lern- und Konfliktpotential, weil wir zu unterschiedlichen Altersgruppen/Generationen gehören; die Begegnung mit meiner Schwester, weil wir in unterschiedlichen Geschlechterkulturen sozialisiert wurden.
Für alle Lern- oder Konfliktfelder, die über die Herkunftskultur hinausgehen, sind interkulturelle Ansätze allerdings oft blind, oder – noch schlimmer – sie geben der Herkunftskultur eine gefährliche Vorrangstellung vor anderen Identitätsmerkmalen. Menschen und ihre Handlungen werden dann auf die Herkunftskultur reduziert, andere Vielfaltsaspekte, wie das Alter, der Bildungshintergrund usw. werden kaum beachtet oder ganz ignoriert.
Interkulturell steht heute für viele in Wissenschaft und Pädagogik für eine alte, verkürzte Sicht auf die menschliche Begegnung. Sehe ich die Bezeichnung „interkulturell“ im Namen von Organisationen, Einrichtungen oder bei der Ausschreibung von Fortbildungen, ist das für mich ein Hinweis dafür, dass hier wahrscheinlich nicht viel zu erwarten ist.
Macht es Sinn „interkulturell“ noch zu benutzen?
In der Wissenschaft gibt es Menschen, die den Begriff „interkulturell“ auch heute noch und auch reflektiert verwenden und die versuchen, den Begriff mit einem modernen Kulturverständnis in Einklang zu bringen. Daher lohnt es sich, nicht alles abzulehnen, was mit „interkulturell“ überschrieben ist.
Ich selbst verwende den Begriff noch ab und zu und zwar immer dann, wenn ich aus dem pädagogisch-, wissenschaftlichen Dunstkreis hinaustrete. In der breiten Bevölkerung wird interkulturell oft noch alternativlos verwendet. Wenn ich dann mit Transkulturalität, Hyperkulturalität oder Transdifferenz ankomme, verstehen viele mich nicht mehr.
„Divers“ als Alternative zu „interkulturell“?
Es gibt eine Bezeichnung, die in den letzten Jahren populär und damit allgemein verständlicher geworden ist und das ist „divers“ bzw. „Diversität“. „Diversität“ ist kein Synonym für „interkulturell“, passt aber eher, wenn man über die Begegnung von vielfältigen Individuen sprechen möchte.
Bezeichnungen wie: Diversität, Diversity, divers, Diversitätsbewusstsein oder Vielfalt stehen heute für eine differenzierte Wahrnehmung der Gesellschaft, von Gruppen und auch von Einzelnen.
„Diversity“ beruht auf zwei Grundannahmen:
1. Jede:r ist vielfältig, einzigartig, anders.
2. Jede:r kann diskriminiert werden.
„Diversity“ nimmt die Einzelnen, die Begegnung, und auch das Zusammenleben in den Blick, die Chancen von individueller und kollektiver Vielfalt, als auch die Herausforderungen. Daher denkt „Diversity“ vom Grundansatz schon viel breiter und individueller als „interkulturelle Ansätze“. So werden unter dem Label „divers“ auch Diskriminierungen angesprochen, ein Thema, das unter dem Label „interkulturell“ oft ausgespart worden ist. Diversity kommt auch ohne das Wort Kultur in der Bezeichnung aus, welches oft missverständlich und auf Nationalkulturen reduziert benutzt wurde.
All das sind Gründe, warum ich meine Arbeit heute „diversitätsbewusste Bildungsarbeit“ nenne.
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