Mehrsprachigkeit gehört zur Realität vieler Menschen in Deutschland. Immer mehr Kinder und Jugendliche wachsen mehrsprachig auf. Einige werden dafür beglückwünscht, andere erleben die Abwertung ihrer Sprache oder Diskriminierung aufgrund ihres Akzents. Die Seite führt ein in die noch wenig beachtete Diskriminierung aufgrund der Sprache (Linguizismus).
Sprachdiskriminierung – Fehlendes Bewusstsein
Sprachdiskriminierung (engl. Speech Discrimination) nennt die US-Psychologin Katherine D. Kinzler eine der letzten Formen zulässiger Diskriminierung:
Sprachliche Voreingenommenheit scheint immer noch in einer Weise zulässig zu sein, wie es andere Formen der Voreingenommenheit unter aufgeklärten, fortschrittlichen Menschen nicht mehr sind, die versuchen, andere ohne Rücksicht auf ihr Aussehen oder ihren Glauben gleich zu behandeln.
Die Menschen sind sich in der Regel nicht über die Folgen von Diskriminierung aufgrund des Akzents bewusst. Die Menschen und Institutionen – wie unser Rechtssystem – sind sich nicht bewusst, wie sehr diese das Leben der Menschen beeinflussen kann.1
Was ist Linguizismus?
Linguizismus bezeichnet Vorurteile, Geringschätzung oder Ablehnung gegenüber Sprachen und ihren Sprechern. Linguizismus bedeutet damit Diskriminierung aufgrund der Sprache oder Sprachdiskriminierung.
Sprachdiskriminierung ist eine Form des Rassismus, die in Vorurteilen und Abwertungen gegenüber Menschen, die eine bestimmte Sprache bzw. eine Sprache in einer durch ihre Herkunft beeinflussten, besonderen Art und Weise verwenden, zum Ausdruck kommt.
Linguizismus erscheint als ein Instrument der Machtausübung gegenüber sozial schwächer gestellten Gruppen mit der Funktion der Wahrung bzw. Herstellung einer sozialen Rangordnung. Die Sprache einer Elite wird dabei zur Norm erhoben; die sprachlichen Merkmale der darunter platzierten gesellschaftlichen Gruppen abgewertet.2
Auf der persönlichen Ebene bedeutet Linguizismus Vorurteile bezüglich von Eigenschaften eines Menschen, die aus seiner gesprochenen oder geschriebenen Sprache abgeleitet werden. Dazu können zum Beispiel die Muttersprache, ein Dialekt oder auch der Akzent gehören.
Sprachdiskriminierung kann aber auch in negativem Verhalten gesehen werden, das in Situationen vorgebracht wird, wenn sich Menschen in der Öffentlichkeit in einer Minderheitensprache unterhalten. Auch in abwertenden Witzen über die Sprache eines anderen Menschen drückt sich Linguizismus aus.
Neo-Linguizismus
Inci Dirim unterscheidet zwischen einem historischen Linguizismus, der ein staatlich legitimiertes Macht- und Unterdrückungsmittel darstellt, und der heute offiziell illegitimen, aber dennoch existenten Abwertung aufgrund de Sprache, die sie Neo-Linguizismus nennt:
Der Neo-Linguizismus ist subtil, er spielt Tatsachen vor, er agiert hinter dem Deckmantel harmlos klingender Bezeichnungen, er täuscht über Ausgrenzung und Unterdrückung hinweg und ist dadurch im Vergleich zu dem Linguizismus gewissermaßen „hinterhältig“ und schwer aufzudecken.3
In der englischsprachigen wissenschaftlichen Literatur wird der Begriff Linguizismus vor allem im Zusammenhang mit der Sprachenpolitik der Kolonialmächte in Afrika gebraucht. Der neuere Begriff Neo-Linguizismus, wie Inci Dirim ihn definiert, ist subtiler: Menschen wird nicht direkt verboten, eine bestimmte Sprache zu sprechen, aber indirekt wird doch dafür gesorgt, dass eine bestimmte Art des Sprechens in wichtigen gesellschaftlichen Teilbereichen wie zum Beispiel der Institution Schule nicht mehr vorkommt. Das Erreichen bestimmter gesellschaftlicher Positionen ist an die Assimilation an die sprachliche Norm geknüpft. 4
Monolingualität als Legitimation für Ausgrenzung
Das Prinzip der Einsprachigkeit (Monolingualität) ist in Deutschland leider noch weit verbreitet: „Unsere Sprache“ ist die einzige legitime Sprache, die von „den anderen“ gelernt und auch gesprochen werden muss. Allein das Infragestellen dieses Vorrangs empört. Sätze wie: „Wir sind hier in Deutschland, hier wird Deutsch gesprochen“, zeigen Ängste vor dem neuen Fakt der Sprachenvielfalt und diskriminieren andere Sprachen und deren Sprecher:innen.

Außerdem basiert der „monolinguale Mythos“ auf der falschen Annahme, dass wir besser dran sind – und neuronal besser in der Lage sind -, nur eine Sprache zu lernen, anstatt zwei oder mehr.
Dabei müsste jede Form vom Mehrsprachigkeit heute als Kompetenz hoch geschätzt werden:
Die Idee davon, was Mehrsprachigkeit bedeutet und was sie mit dem Gehirn macht, hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Wer mehrere Sprachen spricht, hat nicht nur bei der Kommunikation Vorteile. Multilinguale Menschen sind sozial kompetenter und ihr Gehirn arbeitet effizienter.
Fanny Jiménez
Global betrachtet ist Mehrsprachigkeit die Regel und nicht die Ausnahme. Etwa zwei Drittel aller Menschen auf der Welt wachsen in einem mehrsprachigen Umfeld auf. Das Beharren auf dem „Prinzip der Einsprachigkeit“ ist oft die Legitimation für die Ausgrenzung und Abwertung von anderen Sprachen.
So wird zum Beispiel die deutsche Sprache oft selbstverständlich gleichgesetzt mit Sprache allgemein: da heißt es „Sprachförderung“ statt „Deutschförderung“, „Sprachproblem“ statt „geringe Deutschkenntnisse“.
Deutsch-Varietäten
Das eine Deutsch gibt es nicht. Gerade die deutsche Sprache ist so vielfältig, wie Ihre Sprecher:innen.

Dialekte
Der Dialekt ist eine Varietät oder Form einer Sprache, die sich regional oder sozial unterscheidet—das heißt, eine Varietät, die einzigartige Merkmale des Wortschatzes, der Grammatik und der Aussprache aufweist, die häufig durch die gesellschaftliche Schicht und/oder die geografische Region beeinflusst sind.
Auch wegen des Dialekts, kann man Linguizismus erfahren: Nach einer Studie werden bayrischer und sächsischer Dialektsprecher als ungebildeter eingeschätzt als andere Deutsch-Sprecher:innen. 5
Ideolekt
Der Ideolekt beschreibt die unverwechselbare individuelle Sprachverwendung. Demnach gibt es so viele Deutschvarianten, wie es Menschen gibt, die diese Sprache verwenden.
Soziolekte
Ein Soziolekt ist eine Sprachvarietät, die von einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder Schicht gesprochen wird. Soziolekte können durch eine Vielfalt von sozialen Faktoren beeinflusst werden, darunter Faktoren wie sozioökonomischer Status, Bildung und Beruf, sowie Altersgruppe, Religion, Geschlecht, Ethnizität und viele andere.
Der Mensch ist z.B. erstaunlich effektiv, die soziale Herkunft aus der Sprache eines Gegenübers abzuleiten. Wie eine Forschungsgruppe feststellen konnte, reicht bereits das Hören von sieben Wörtern aus, um eine überzufällig genaue Einschätzung der sozialen Herkunft einer Person zu erlauben.
Ethnolekte – Kietzdeutsch
Ethnolekte sind sprachliche Varianten bzw. Sprechstile, die von Sprechern einer sprachlichen Minderheit entwickelt werden. Ein bekannter deutscher Jargon, der als Ethnolekt bezeichnet wird, ist Kiezdeutsch.
Diese „Sprache“ wird in erster Linie von Jugendlichen gesprochen und ist damit auch eine interessante Blüte einer speziellen Jugendkultur bzw. eines besonderen urbanen Milieus.

Das Besondere an Kiezdeutsch ist, dass sich die Jugendsprache im Kontakt unterschiedlicher Sprachen und Herkunftskulturen entwickelt hat. Neben grammatischen Vereinfachungen zeigt sich in Kiezdeutsch ein großes Maß an sprachlicher Kreativität und grammatischer Innovation. In Kiezdeutsch treten neue Fremdwörter z.B. aus dem Türkischen und dem Arabischen auf, es entstehen neue Wendungen und sogar neue grammatische Konstruktionen. Kiezdeutsch ist also kein „falsches“ oder „schlechtes“ Deutsch.
Kiezdeutsch ist eine sprachliche Varietät, die in sich stimmig ist. Wie jeder Dialekt ist es durch Abweichungen vom Standarddeutschen gekennzeichnet, diese sind aber systematisch und nicht bloße Fehler.
Accent Bias – Was der Akzent auslösen kann
Die Sprache ist ein Fenster zum Innersten des Menschen, aber sie ist auch eine Schwachstelle, eine offene Wunde, durch die wir einer ansteckenden Welt ausgesetzt sind.
Steven Pinker 6
Sobald wir sprechen, geben wir etwas von uns Preis. Die gewählten Worte verraten vermeintlich vieles über unsere Persönlichkeit, aber vor allem wenn ein Akzent oder ein Dialekt in der Sprache wahrgenommen wird, können schnell und direkt Assoziationen über unsere Person wachgerufen werden, welche auf Stereotypen und Vorurteilen beruhen. In diesem Fall wird von einem Akzent Bias (engl. Accent Bias) gesprochen.
Es zeigte sich, dass die spontanen Reaktionen auf einen fremdsprachigen Akzent im Vergleich zu akzentfreier Sprache stets ganz allgemein negativ sind. Das gilt für den beliebten französischen Akzent ebenso wie für die negativ konnotierten Akzente Russisch oder Türkisch.
Sozialpsychologin Dr. Janin Rössel 7
Wenn jemand mit Akzent spricht, dann löst das, so die Sozialpsychologin Dr. Janin Rössel, in Menschen unwillkürlich Gefühle und bestimmte Assoziationen aus. Muttersprachler:innen bemerken sofort die Fremd- oder Andersartigkeit beim Sprechen. Auch das Gefühl der Disfluenz, also einer schwierigeren Verarbeitung, setzt meist unweigerlich ein. Ihre Studien zeigen, dass Akzentsprechende tendenziell als weniger kompetent einstuft werden – auch wenn die Personen sich grammatikalisch vollkommen korrekt ausdrücken.8

Die mit den Akzenten eventuell verbundenen Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen kommen demnach in der ersten spontanen Reaktion gar nicht zum Tragen, so die Psychologin. Auch können wir den Akzent eines Gesprächspartners auf Anhieb oft gar nicht korrekt einer bestimmten Muttersprache zuordnen. Für unsere allererste Reaktion ist die spezifische Gruppenzugehörigkeit des Gegenübers demnach also nicht entscheidend.
Gute Sprache / Schlechte Sprache – Hierarchisierung und Macht
Niemand darf wegen […] seiner Sprache […] benachteiligt oder bevorzugt werden.
Grundgesetz (Art. 3)
Mit der Einschätzung einer Sprache durch den Zuhörenden werden gleichzeitig Assoziationen geweckt, welche auf früheren Erfahrungen und Stereotypen (oft z.B. über die Herkunftsländer oder Herkunftsregionen) der Sprachen basieren. In der Folge können diese die Wahrnehmung von, sowie das weiteres Verhalten gegenüber der Person beeinflussen.

Bestimmte Sprachen und Dialekte werden für klüger, statushöher und attraktiver gehalten, andere dagegen als ungebildeter oder unsympathischer. Englisch, Französisch oder Spanisch werden z.B. durchaus geschätzt, aber Farsi, Kurdisch, Türkisch, Russisch oder Polnisch eher abgewertet.

Selten wird z.B. positiv hervorgehoben, dass jemand Türkisch-Muttersprachler:in ist, weil Türkisch in der Institution Schule und in unserer Gesellschaft kein hoher Bildungswert zugesprochen wird.
Der Status einer Sprache hängt unweigerlich mit dem sozio-ökonomischen Status ihrer Sprecherinnen und Sprecher zusammen. So ist Spanisch z.B. in Deutschland eine gern gewählte und beliebte Fremdsprache, die man oft mit Urlaub, rhythmischer Musik und Entspannung assoziiert. In den USA, wo im Gegensatz zu Deutschland eine bedeutende spanischsprechende Diaspora beheimatet ist, wird sie in gewissen US-amerikanischen Kreisen verpönt, als Provokation wahrgenommen, hispanophone Menschen werden rassistisch beleidigt, wenn sie im öffentlichen Raum Spanisch sprechen.9
Wo äußert sich Linguizismus?
Linguizsmus kann sich überall im Alltag äußern. Menschen mit Namen, die nicht als Deutsch gelesen werden, werden seltener zu Vorstellungsgesprächen oder Wohnungsbesichtigungen eingeladen. Wer kein oder wenig Deutsch spricht oder wer einen ausländischen Akzent hat, wird bei der Vergabe von Wohnungen oder Jobs oder bei Ämterbesuchen öfter benachteiligt.
In den deutschen Behörden läuft, von übersetzten Formularen abgesehen, fast alles monolingual ab. Natürlich ist nicht nur die Einsprachigkeit der Beamt:innen ein Problem.
Olga Grjasnowa10
Kita
Mehrsprachige Kinder treffen oft auf eine einsprachige Kita und damit auf einen „Zwang zur Einsprachigkeit“.
Mehrsprachige Kinder sind in der Kita kein Thema, solange sie gut Deutsch verstehen. Verstehen sie wenig Deutsch ist von einem Problem die Rede. Die einsprachigen Fachkräfte haben nämlich das Problem dass ihre Fachkompetenzen nicht mehr passen. Das Drängen auf Einsprachigkeit ist häufig dem Dilemma geschuldet indem sich die Fachkräfte befinden die mit mehrsprachigen Familien und Kindern zu tun haben. Um die Kinder adäquat zu fördern fehlt es an Knowhow und an den geeigneten Bedingungen.11
Ein Weg aus dem Dilemma ist die konzeptionelle Festlegung auf Einsprachigkeit, die angeblich im Interesse der Kinder und Eltern ist: „Hier wird Deutsch gesprochen“. Damit werden Lernchancen und die frühe Neugier und Aufmerksamkeit für Vielsprachigkeit auch bei Nicht-Mehrsprachigen Kindern vergeben.

Viele mehrsprachige Kinder erleben schon früh, dass ihre Muttersprache nicht verstanden, nicht anerkannt und nicht akzeptiert wird. Generell erleben Sie Sprache in der Kita auch als Zwang, denn nun müssen sie in weiten Teilen des Tages eine bestimmte Sprache sprechen.
Mit fünf Jahren, können Kinder überraschende Kompetenzen ausgebildet haben, sich mit vielen Sprachen durch sie hindurch zu bewegen, sich dieser Kompetenzen bewusst zu sein und sich selbst stolz als mehrsprachige Kinder zu sehen. Mit fünf Jahren können Kinder bereits massiver Erfahrungen mit Versagen und Ungenügen und Unterlegenheit gemacht haben, gerade im Hinblick auf ihre sprachlichen Kompetenzen. Die Gefahr ist, dass sie eingeschüchtert und unsicher sind und sich auf weitere Bildungsprozesse im Sinne lernender Weltaneignung nur begrenzt einlassen können.12
Auch die Kommunikation mit den Eltern ist in vielen Kitas oft durch sture Einsprachigkeit gekennzeichnet, die sich z.B. in für Nichtmuttersprachler:innen schwer zu verstehenden Elternbriefen / Elternabenden äußert. Das Konzept der leichten Sprache, als Möglichkeit auch neuzugewanderte Eltern abzuholen, wird leider noch zu wenig in Kitas verwendet.
Zweisprachigkeit überwindet soziale Grenzen und kann einen Weg zu sozialer Offenheit und Toleranz eröffnen. Dies ist für Kinder in der Entwicklungsphase von entscheidender Bedeutung, denn das Verstehen anderer – das Einnehmen ihrer Perspektive, das Nachempfinden ihrer Gefühle und das Vorstellen ihres Seelenlebens – trifft in vielerlei Hinsicht den Kern dessen, was es bedeutet, eine menschliche Interaktion zu haben. Durch die Verbesserung unserer Fähigkeit, andere zu verstehen, kann die Mehrsprachigkeit einen kleinen Schritt in Richtung menschliches Miteinander darstellen – einen Schritt, der zählt. 13.
Schule
Auf gesellschaftlicher Ebene manifestiert sich Linguizismus auch in der einsprachigen Ausrichtung gesellschaftlicher Institutionen wie den Schulen, in denen Menschen mit vielen Muttersprachen automatisch schlechtere Ausgangsbedingungen haben, da ihre Muttersprache im Gegensatz zu Deutsch, oder den angesehenen Bildungssprachen Englisch, Französisch oder Spanisch als ein Defizit abgewertet wird. Das öffentliche Ansehen vieler Sprachen (Sprachprestige) und folglich auch der Sprecher:innen wird als geringer eingeschätzt.
Viele Schulen in Deutschland verstehen sich nach wie vor als Institutionen sprachlicher Homogenisierung, auch hier wird oft das Prinzip der Einsprachigkeit, die Monolingualität, gelebt und eingefordert. Abgesehen vom Fremdsprachenunterricht, ist Deutsch ist die einzige legitime Sprache. Im schlimmsten Fall werden die anderen Herkunftssprachen in der Schule sogar stigmatisiert und auch mal ganz gerne von Schulhöfen verbannt. Seit es einschlägige Urteile gegen Sprachverbote an Schulen gebegeben hat, ist dieser Impuls allerdings seltener geworden.

In der Schule finden selbst verbreitete Herkunftssprachen wie Türkisch Russisch oder Polnisch selten Raum. Dabei sind sich Experten einig, dass das zum einen für die Identität der Kinder wichtig wäre, wenn ihre Sprache auch dort Wertschätzung erfährt zum anderen kann es ihnen auch berufliche Chancen eröffnen wenn sie ihre Familiensprache auf einem hohen Niveau beherrschen.

Sprecher:innen, die aufgrund von Migrationsgeschichten weitere Sprachen beherrschen, werden selten als zweisprachig wahrgenommen oder erfahren für diese Leistung kaum Anerkennung.
Ich werde stets für meine Kenntnisse in den typischen Fremdsprachen gelobt, aber dass ich auch Türkisch spreche,„zählt ja nicht“. Ehrlich gesagt, war es mühsamer mein Türkisch auf ein standardsprachliches Niveau zu hieven, gerade weil es in Deutschland an entsprechenden Bildungsangeboten fehlt.
Filiz Yıldırım 14
Studien zeigen, dass es für mehrsprachige Kinder von Vorteil ist, wenn sie ihre Familiensprachen in der Schule verwenden können. Steht es Schüler:innen zum Beispiel frei, in ihrer „starken“ Sprache zu recherchieren, können sie sich Inhalte besser erschließen, durchdenken und festhalten. Das kann das Lernen vereinfachen und zu einer höheren Motivation unter Schüler:innen führen.15
Darüber hinaus prägen Sprachen auch das Gefühl von Anerkennung und Zugehörigkeit von Schüler:innen – etwa wenn sie besser am Unterricht teilhaben können und die Kenntnisse auch als Sprachkenntnisse, etwa im Zeugnis anerkannt werden. 16
Auswirkungen von Linguizismus
Sprachdiskriminierung führt zu Ungleichen Chancen
Über viele Studien hinweg konnten Dialekte und Akzente, welche mit negativen Vorurteilen verbunden sind, mit niedrigeren Gehältern und geringeren Aufstiegschancen in Verbindung gebracht werden. Dies geschieht unabhängig von den Qualifikationen und Fähigkeiten der Person: Dialekte und Akzente beeinflussen unbewusst die Wahrnehmung der Kompetenz und Intellektualität einer Person.
Die unterschiedliche Anerkennung der Sprache im Umfeld führt zu Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, beim Bewerbungsgespräch oder im Job, wenn z.B. fachliche Qualifikation aufgrund der (Aus-)Sprache zu oder abgesprochen wird.
Umgekehrt können Akzente und Dialekte, welche positive Assoziationen wecken zu einem ebenso unbegründeten Bonus in der Wahrnehmung führen. In beiden Fällen werden also Entscheidungen getroffen, welche wenig mit den tatsächlichen Eigenschaften einer Person zu tun haben.
Linguistic Insecurity
Wenn immer wieder negative Reaktionen auf die eigene Sprache oder auf die eigene Art und Weise zu sprechen erfolgen, kann ein negativen Bilds der eigenen Sprache entstehen. Dieses kann tiefe Verunsicherung und andauerndes Unbehagen wegen der eigenen Art zu sprechen auslösen.
Die Abwertung der Muttersprache kann bei Kindern zur Folge haben, dass sie sich mit einem wichtigen Teil ihrer Identität nicht akzeptiert fühlen. Das kann bei Kindern wiederum zum Aufgeben ihrer Muttersprache führen, oder dazu, dass Eltern die eigene Sprache nicht weitergeben möchten. Beides ist oft eine verpasste Chance für die zukünftige Entwicklung des Kindes.
Sprachsensible Pädagogik
Will man der zunehmenden Mehrsprachigkeit in Deutschland pädagogische nicht mit der Gewalt eines Redeverbots begegnen, bleibt keine Alternative, als die Vielfalt der Sprachen, die die Jugendlichen mitbringen, aufzugreifen und grundlegend zu achten.
Sprache und Macht
Eine sprachsensible Pädagogik erkennt, dass Sprache und Macht in grundlegender Weise miteinander verschränkt sind. Ohne Sprache und das Vermögen, sich mitzuteilen und verstanden zu werden, ist die persönliche Handlungsfahigkeit bedroht. Sprache ermöglicht es, erkannt und anerkannt zu werden. Sprache und Kommunikation sind nicht nur ein Instrument zur Verständigung, sondern auch Ausdruck sozialer Beziehungen. Pädagog:innen können die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Menschen auf verschiedene Weise ansprechen, aufnehmen oder auch ignorieren. Verantwortliche können dabei gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren oder bestrebt sein, sie zu überwinden.
„Die sollen doch Deutsch lernen!“
Oft wird aktive Mehrsprachigkeit mit dem Argument abgewiesen, dass die Neuzugewanderten ja „unsere Sprache“ lernen müssen und dass Übersetzungen, Visualisierungen und das Benutzen einfacher Sprache dafür eher kontraproduktiv seien. Dahinter steckt das Konzept „erst Sprache lernen, dann mitmachen“, welches in Deutschland weit verbreitet ist.
In Kanada dagegen hat man mit dem Gegenteil positive Erfahrungen gemacht: „Erst mitmachen, dadurch Sprache lernen“. Durch aktives Mitmachen entstehen Sprechanlässe und langfristig auch der sicherlich erstrebenswerte Spracherwerb. Sprachenvielfalt und einfache Sprache können ein „Dabeisein“ von Anfang an ermöglichen und Neuzugewanderten einen Einstieg in die Gesellschaft und möglichst frühzeitige Teilhabe ermöglichen. Das motiviert – auch zum Deutsch lernen.
Was kann man (pädagogisch) gegen Linguzismus tun?
Sprache ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits signalisiert die Art und Weise, wie wir sprechen, Gruppenunterschiede und legt den Grundstein für schreckliche Vorurteile. Andererseits kann Sprache uns ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln, uns helfen, uns selbst und unsere kulturelle Identität zu finden, und uns gleichzeitig darauf vorbereiten, erfolgreich zu sein. Wenn wir lernen, in mehr als einer Sprache zu sprechen, werden wir offenbar sozial aufmerksamer und kognitiv flexibler, was unseren Verstand auch im späteren Leben schärfen kann.
Kurz gesagt, die Sprache kann das Problem und auch die Lösung sein. Indem wir unser Verhältnis zur Sprache ändern – indem wir uns bewusst machen, wie wichtig sie für unser soziales Leben ist, indem wir uns für die sprachliche Vielfalt in ihren vielen Formen öffnen und indem wir Änderungen vornehmen, um unsere Bildungs-, Rechts- und Gesellschaftsinstitutionen zu verbessern – können wir die Macht der Sprache für das Gute nutzen. Die Zeit für diese Revolution ist jetzt.17
Vom Störfall zum Glücksfall
Die Sprachenvielfalt in einer Gruppe kann als Chance wahrgenommen werden. Natürlich ist Sprachenvielfalt zunächst für alle zeit- und energieaufwendiger. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass der Umgang mit Sprachenvielfalt schnell zur Normalität wird. Dabei kann der Umgang mit verschiedenen Sprachen, Kommunikationskanälen, Schriften und Ausdrucksformen sowie mit Missverständnissen, Sprachlosigkeit und Nichtverstehen spielerisch gelernt werden. Gerade Schule und Jugendarbeit greifen damit ein Thema auf, dem die Jugendlichen in der Gesellschaft in zunehmenden Maß begegnen. Denn die Zukunft der globalisierten Welt spricht viele Sprachen.
Sprachkompetenzen thematisieren
Über Aufstellungen, Plakate, Einzel- oder Gruppenarbeiten kann man Sprachbiografien und Sprachkompetenzen in der Gruppe thematisieren: „Wer spricht mehr als vier Sprachen?“, „Wer hat schon langer in einem anderen Land gelebt?“, „Welche Sprache wird in der Familie gesprochen?“, „Wer hat eine Sprache in der Schule gelernt?“ etc. Manchmal überraschen die Antworten. Oft wird die Sprachenvielfalt in der Gruppe erst durch eine solche Thematisierung wahrgenommen und anerkannt.
Warum nicht alle wichtigen Orte und Dinge in Gebäuden und auf dem Gelände in allen Sprachen der Gruppenmitglieder beschildern? Worte wie „Willkommen“ am Eingang oder „Toilette“ auf der Toliettentür können ruhig in zehn, zwölf Sprachen und Schriften geschrieben sein. Dabei geht es weniger um Orientierung als um Anerkennung. Außerdem wird der Ort dadurch auch einladender für andere Jugendliche mit Migrationserfahrung, denn die vielen Sprachaufschriften zeigen nach außen: Hier ist Sprachenvielfalt normal.

Sprachenvielfalt hörbar machen
Um die natürliche Autorität von Sprecher:innen diverser Erstsprachen ins Rampenlicht zu rücken, kann man sie bitten, in ausgewählten Situationen oder Momenten in „ihrer“ Sprache zu sprechen. Gute Gelegenheiten sind zum Beispiel Begrüßungs- oder Vorstellungsrunden, bei Reflexionseinheiten oder „Wie geht es mir-Runden“. Für viele Menschen ist das Sprechen der „eigenen Sprache“ vor der Gruppe ungewohnt und gleichsam befreiend. Auch in einer Konfliktsituation kann die explizite Bitte, den Unmut in der eignen Familiensprache zu äußern, den Betreffenden helfen, sich abzureagieren.

Sprachanimation
Die zentrale Methode der Sprachanimation ist das Spiel, denn spielerisches Lernen ist einfach und macht Spaß. Animation eignet sich für die Arbeit mit Sprecher:innen unterschiedlicher Sprachen und Sprachniveaus. Ziel der Sprachspiele ist es, die verschiedenen Sprachen mit einer fröhlichen Leichtigkeit zu thematisieren, gegenseitig Interesse an den jeweiligen Sprachen zu wecken und Hemmungen beim Gebrauch von Fremdsprachen abzubauen.
Folgende Methodensammlungen für Sprachanimationen sind zu empfehlen (und über die darin explizit bezeichneten Sprachen hinaus zu gebrauchen): Sprachanimation in deutsch-französischen Jugendbegegnungen, Leitfaden zur Sprachanimation in trinationalen Begegnungen, ABC-Buch der deutsch-polnischen Sprachanimation, Deutsch-tschechische Sprachanimation
Texte zu Linguizismus
- Artikel Linguizismus: Ich höre, wie du sprichst, und weiß dann, wer du bist …
- Was ist gutes Deutsch? Sprache als Machtinstrument in der Gesellschaft
- Translation. Gute Sprachen, schlechte Sprachen: Türkisch in Deutschland, 2020
- Was ist gutes Deutsch? Sprache als Machtinstrument in der Gesellschaft
- Artikel über die Jugendmixsprache Kitzdeutsch
- Artikel: Was wir mit einem Akzent verbinden
Literatur zu Linguizismus
- Olga Grjasnowa: Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt, Dudenverlag 2021
- Katherine D. Kinzler: How You Say It, Harpercollins, 2021
- Petra Wagner: Quer durch viele Sprachen hindurch – Vielgestaltigkeit der Sprachwelten von Kindern, in: Petra Wagner (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, Herder, 2013, S. 150-162
- Inci Dirim/Paul Mecheril: Die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft; in: Paul Mecheril (u.a.): Migrationspädagogik, Beltz 2010, S. 99-120
Materialien
Videos zu Linguizismus
- Katherine D. Kinzler: How You Say It, Harpercollins, 2021, S. 126f., eigene Übersetzung aus dem Englischen. ↩
- Inci Dirim: „Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.“ Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft; in: Paul Mecheril/Inci Dirim/Mechthild Gomolla/Sabine Hornberg/Krassimir Stojanov (Hrsg.): Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung, Waxmann-Verlag 2010, S. 91-114, hier S. 91-92 ↩
- Ebd. S. 96 ↩
- Karim Fereidooni im Interview: Was ist gutes Deutsch? Sprache als Machtinstrument in der Gesellschaft, ufuq.de, 2019 ↩
- Aktuelle Spracheinstellungen in Deutschland, Institut für Deutsche Sprache 2014 ↩
- Steven Pinker: The Stuff of Thought: Language as a Window into Human Nature, Penguin, 2008 ↩
- Janin Rössel: How Does it Matter How You Pronounce it? Shedding New Light on Nonnative Accent Perception and Evaluations of Nonnative Accented Speakers, Dissertation 2016 ↩
- Ebd. ↩
- Filiz Yıldırım: Translation. Gute Sprachen, schlechte Sprachen: Türkisch in Deutschland, Universitätsbibliothek Mainz, 2020 ↩
- Olga Grjasnowa: Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt, Dudenverlag 2021, S.61 ↩
- Petra Wagner: Quer durch viele Sprachen hindurch – Vielgestaltigkeit der Sprachwelten von Kindern, in: Petra Wagner (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, Herder, 2013, S. 150-162, hier S. 155 ↩
- Ebd. S. 162 ↩
- Katherine D. Kinzler: How You Say It, Harpercollins, 2021, S. 170, eigene Übersetzung aus dem Englischen ↩
- Filiz Yıldırım: Translation. Gute Sprachen, schlechte Sprachen: Türkisch in Deutschland, Universitätsbibliothek Mainz, 2020 ↩
- Dita Vogel: Drei Sprachen sind genug fürs Abitur! Ein Reformvorschlag für den Abbau der Diskriminierung von mehrsprachig Aufgewachsenen bei Schulabschlüssen, Rat für Migration e.V. 2020 ↩
- Stefanie Bredthauer/Magdalena Kaleta/Marco Triulzi: Mehrsprachige Unterrichtselemente, Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, 2021 ↩
- Katherine D. Kinzler: How You Say It, Harpercollins, 2021, S. 176f., eigene Übersetzung aus dem Englischen ↩
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