Oft ist die Rede von unseren kulturellen Wurzeln … und wir meinen damit eine kulturelle Herkunft oder Verbundenheit. Die Metapher der Wurzel ist aber nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Überlegungen zu Wurzeln und Rhizomen.

Menschen sind keine Bäume!

Falsch ist die Metapher, weil Menschen keine Wurzeln haben. Plakat 1921 zur VolksabstimmungBäume und Pflanzen haben Wurzeln. Menschen haben Füße! Das klingt banal, macht aber einen riesigen Unterschied. Pflanzen sind an den Boden gebunden, sind festgelegt durch den Ort des Keimlings. Um sie aber an einen anderen Ort zu bringen, muss man sie ausreißen, abschneiden, umtopfen … Menschen sind zum Glück flexibler. Menschen können Orte wechseln und ihnen dennoch verbunden bleiben. Menschen können sich an vielen Orten gleichzeitig zu Hause fühlen. Menschen sind nicht an einen Boden gebunden!

Gefährlich ist die Metapher der Verwurzelung wenn sie Menschen an einen Boden bindet. Gefährlich ist die Metapher der Verwurzelung, wenn über sie Menschen determiniert, festgelegt und ausgeschlossen werden. Besonders Rechtspopulisten sehen Menschen gerne mit dem Boden verbunden. Damit legitimieren sie für sich ein höheres Recht auf das Leben in einem Land als für andere. So heißt es z.B. auf der Internetseite der NPD:

Mittlerweile leben in Deutschland offiziell nahezu 16 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln (…)

im Parteiprogramm der NPD stand z.B. 2010:

Wir lehnen alle „multikulturellen“ Gesellschaftsmodelle als unmenschlich ab, weil sie Deutsche und Nichtdeutsche gleichermaßen der nationalen Gemeinschaftsordnung entfremden und sie als entwurzelte Menschen der Fremdbestimmung durch Wirtschaft, Medien und Politik ausliefern.1
deutsche Wurzeln Accessoires ..


Spiegel-Online-Titel 14.11.2014

Von Wurzeln zu Wegen …

Menschen werden aber natürlich durch die Gemeinschaften mit denen sie zusammen leben und interagieren geprägt. Die Suche nach den kulturellen Wurzeln („Wo komme ich her?“), die als die eine bestimmende Konstellation für die kulturelle Identität gesehen wird, stellt Stuart Hall die Reflexion gegangener (Lebens-) Wege gegenüber: “From Roots to Routes” lautet seine Formel programmatisch.2

Besser als die Metapher der Wurzel ist also die des Weges. Jeder Mensch geht in seinem Leben einen eigenen Weg… einen Weg durch verschiedene Orte… einen Weg durch verschiedene Gemeinschaften.

So führt mich mein Lebensweg vielleicht von einer protestantischen Kleinfamilie aus einem Vorort von Berlin, über eine internationale Studentengemeinschaft in Barcelona bis hin zu einem Architektenbüro und einer Yogagruppe in Stuttgart. Die Orte, vielmehr aber noch die Gemeinschaften mit denen ich an den Orten meines Weges verbunden bin, prägen mich und meine Identität. Spreche ich von “ostdeutschen Wurzeln” verkenne ich die vielen anderen Erfahrungsorte und Ebenen und verzerre die Vielfalt meiner tatsächlichen Herkünfte.


from roots to routes

 


Rhizom statt Wurzel

Wenn ich aber gerne bei botanischen Metaphern bleiben will, so bietet sich im Zusammenhang mit Kultur das Rhizom viel besser an! Ein Rhizom ist ein unterirdisches Geflecht, das grundsätzlich verschieden ist von Wurzeln. Zwiebeln und Knollengewächse sind zum Beispiel Rhizome.

Rhizome können uns vielleicht ein Bild sein, um Kultur und kulturelle Vernetzung besser zu verstehen. Hier ist besonders die Gestalt des Rhizoms interessant: Das Rhizom bezeichnet die nicht zentrierte Vielheit, die keiner übergreifenden Ordnung zu unterwerfen ist. Jeder Punkt eines Rhizoms kann und (muß) mit jedem anderen verbunden werden. Das ist ganz anders als beim Baum oder bei der Wurzel, bei denen ein Punkt, eine Ordnung festgelegt ist.3


Rhizom der Kulturen

Aber auch der Wuchs und die Eigenschaften machen das Rhizom interessant für den Kulturvergleich: Das Rhizom ist also ein offenes Gebilde, dessen heterogene Elemente unaufhörlich ineinander spielen, übereinander gleiten und im ständigen “Werden” begriffen sind. Der rhizomatische Raum ist kein Raum der “Verhandlung”, sondern der Verwandlung und Vermischung. Die rhizomatische Streuung, ja Zerstreuung ent-substantialisiert , ent-innerlicht die Kultur zur Hyperkultur.4

Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist […] ein Zwischenstück, Intermezzo. Der Baum ist Filiation, aber das Rhizom ist Allianz, einzig und allein Allianz. Der Baum braucht das Verb “sein, doch das Rhizom findet seinen Zusammenhang in der Konjugation “und … und … und …” In dieser Konjugation liegt genug Kraft, um das Verb “sein” zu erschüttern und zu entwurzeln.5

Die Kritik an der Rizom-Metapher lautet schlicht aber eindrücklich, dass es sich auch hier um eine Naturalisierung sozialer Verhältnisse handelt. Warum die Wurzelmetapher und andere Naturalisierungen so oft benutzt werden, obwohl sie hochproblematisch sind, behandelt Markus Termeer ausführlich in seinem lesenswerten Essay: Menschen mit fremden Wurzeln in hybriden Stadtlandschaften. Versuch über Identität und Urbanität im Postfordismus, 2016. Hier geht es zu einer ausführlichen Inhaltsangabe bzw. Rezension.


Wurzeln entwurzeln!


  1. Das Parteiprogramm der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD)Beschlossen auf dem Bundesparteitag am 4./5.6.2010 in Bamberg
  2. Hall, Stuart: Who Needs Identity?, in Hall, Stuart/Du Gay, Paul (Hrsg.): Questions of Cultural Identity. London, 1996. Online in seiner Dankesrede zur Preisverleihung des „Routes – Princess Margriet Award‘ for Cultural Diversity“ der ‚European Cultural Foundation‘ 2008
  3. Deleuze, Gilles (1992): Tausend Plateaus, Berlin, S. 16
  4. Han, Byung-Chul: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin 2005, S. 32
  5. Deleuze, Gilles (1992), S. 41