Migration wird in deutschen Sozialkunde- und Geschichtsschulbüchern, teilweise auch in Geografieschulbüchern primär als konfliktträchtig und krisenhaft dargestellt. Dagegen wird kaum deutlich gemacht, dass Migration seit Jahrhunderten zur Normalität in Deutschlands und Europas gehört.

Muss man sich dann als Politiker_in wundern, wenn die Bevölkerung angesichts von Flucht und Arbeitsmigration auch Ängste und Ressentiments äußert? Wo bleibt die Pädagogik, wo bleiben die Schulbücher, die herkunftsbedingte Vielfalt als Normalfall und nicht als Problemlage vermitteln?

Zuwanderungsland Deutschland

Im OECD-Zuwanderungsranking 2014 liegt Deutschland an zweiter Stelle direkt hinter den USA. Erst danach folgen klassische Einwanderungsländer wie Kanada oder Australien. Vor allem die Bevölkerung in den Städten Deutschlands ist zunehmend durch eigene und familiäre Migrationserfahrung geprägt.

Herkunftsbezogene Heterogenität in Schulen nimmt zu

Damit nimmt auch die Heterogenität an Deutschlands Schulen zu: 2010 hatten laut Mikrozensus bereits 33 Prozent der Kinder und Jugendlichen bis 15 Jahre einen Migrationshintergrund. 20 Prozent der Bevölkerung, also jeder fünfte Einwohner, hat einen Migrationshintergrund. Zwei Drittel aller Menschen mit Migrationshintergrund sind zugewandert, haben also eigene Migrationserfahrung.1 Bildungseinrichtungen von der Kindertagesstätte bis zur Hochschule sind zentrale Orte für gesellschaftliche Integration und Teilhabe.

Schulbücher problematisieren Migration

In diesem Jahr wurde eine offizielle „Schulbuchstudie Migration und Integration“ von der beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration herausgegeben. Die Untersuchung zeigt leider sehr deutlich, dass in den analysierten Schulbüchern die Problematisierung von Migration gegenüber der Darstellung von Diversität als Normalfall überwiegt. Sie führt zwangsläufig zu gesellschaftlich kontroversen Positionen. In diesem Zusammenhang erscheinen Migration und Diversität letztlich nur als Problem und Herausforderung für eine weiterhin überwiegend als homogen vorgestellte Gesellschaft. Diese einseitigen Darstellungen wurden schon in Schulbüchern nachgewiesen, die vor 2000 erschienen sind und es ist kritisch zu bewerten, dass sich auch in der neuen Schulbuchgeneration kaum Ansätze eines differenzierten Umgangs mit dem Thema Migration finden.

Gefährliche Vorstellungen und Begriffsunklarheiten im Unterricht

Integration gilt in den untersuchten Schulbüchern von Geschichte, Sozialkunde und Geografie als unbedingt notwendig für den sozialen Zusammenhalt in der Einwanderungsgesellschaft, dabei wird Integration aber nicht konkretisiert und differenziert. In Form eines plakativen Gebots der Integration wird von Menschen mit Migrationshintergrund eine Anpassungsleistung an die deutsche Gesellschaft gefordert. In diesem Zusammenhang werden die Leistungen des deutschen Staates für die Integration stets positiv hervorgehoben. In den analysierten Schulbüchern werden darüber hinaus Begriffe wie z. B. „Ausländer“, „Fremde“ „Migranten“ und „Menschen mit Migrationshintergrund“ häufig nicht unterschieden, sondern im Gegenteil sogar synonym im selben Band bzw. Text benutzt. Damit verschwimmen die gerade in diesem Kontext relevanten Bedeutungs- und Wirkungskontexte der Bezeichnungen. Auch der Begriff Integration vermittelt in den Schulbüchern oft, ob intendiert oder nicht, die Vorstellung eines „Aufgehens im Ganzen“. Die Studie kommt daher zu dem Schluss, dass die Möglichkeit, einen differenzierten, reflektierten und bewussten Umgang mit bestimmten Begriffen einzuüben, in den Schulbüchern nicht ausreichend wahrgenommen wird.

Migration als Normalität vermitteln

Im letzten Teil der Studie werden von den Autoren und Autorinnen der Studie Vorschläge zu Veränderungen den herrschenden Darstellungen gemacht:

Als Alternative zu den gängigen Darstellungen von Migration als Sonderfall bietet sich an, Migration systematisch im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Mobilität zu betrachten, die charakteristisch ist für die moderne Gesellschaft. Dies könnte auch und gerade in der historisch-politischen Bildung reflektiert und vermittelt werden, um so die Entstehung und Errungenschaften der heutigen (Migrations-) Gesellschaft historisch einzuordnen.

So könnte insbesondere bei der Vermittlung von Migration stärker thematisiert werden, dass die Bereitschaft zu räumlicher Mobilität und Flexibilität von Menschen heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen erwartet bzw. ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird. Dies eröffnet die Möglichkeit, Menschen nicht ausschließlich oder primär auf ihre Migrationsbiografien zu reduzieren und individuelle sowie kollektive Darstellungen von Menschen mit Migrationshintergrund stärker zu differenzieren: So tauchen der IT-Experte aus Indien, die Ärztin aus Russland und der Student aus Südkorea kaum als Migranten in den Schulbüchern auf.

Die Frage, wer als „Migrantin“ oder „Migrant“ gilt, ist also nicht allein davon abhängig, ob eine Person eingewandert ist, sondern vor allem davon, welche gesellschaftliche Position sie innehat. Insofern ist die entsprechende Bezeichnungspraxis immer auch Ausdruck sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Grundsätzlich gilt es schließlich die Begriffe und Bezeichnungspraxen zu überdenken, die in der Darstellung von Migration und Integration sichtbar werden.

Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen die Notwendigkeit, diversitätssensible Schulbücher und andere Bildungsmedien zu produzieren, die (migrationsbedingte) Vielfalt als Normalität widerspiegeln und deren Chancen für die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen.

Multiperspektivität für eine neue Bildungspraxis

Aus den vorliegenden Resultaten der Studie entwickeln die Autoren und Autorinnen Empfehlungen für die Bildungspraxis und Bildungspolitik. Sie fordern Lehrplankommissionen der Länder und die Bildungsmedienverlage auf, die Themen Migration und Integration ausgewogener und in multiperspektivischer Weise aufzugreifen und darzustellen. Ferner wird es als unerlässlich erachtet, dass Lehrerinnen und Lehrer als Wissensvermittler im schulischen Kontext diversitätskompetent agieren und medienkritisch mit Schulbüchern und anderen Unterrichtsmaterialien umgehen. Diese Sensibilisierung sollte schon im Studium beginnen und damit Diversity Education Teil der Lehrerausbildung werden.

Die Schulbuchstudie mit ihren wichtigen Hinweisen an eine künftige multiperspektivische Praxis finden sie unter: BPA/IB/Schulbuchstudie_Migration_und_Integration_09_03_2015.pdf


  1. vgl. Mikrozensus unter https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration.html