Transdifferenz ist ein Oberbegriff für die Überschneidungs- und Überlappungsphänomene, die sich überall im Zuge des Globalisierungsprozesses und des Postkolonialismus zeigen (z.B. Hybridität, Métissage, Kreolisierung etc.).

Transdifferenz stellt jegliche auf binären Differenzmodellen beruhenden kulturellen Konzepte in Frage. Das Konzept ist dabei  aus der Unzufriedenheit mit dem Konzept der Transkulturalität entstanden, welches ja seinerseits auch versucht, die strenge Polarität binärer Differenzen aufzubrechen. In diesem Sinne kann man Transdifferenz als eine konstruktive Kritik, oder Weiterentwicklung des Ansatzes der Transkulturalität verstehen.

Ungewissheit und Ununterscheidbarkeit

Das erste Paradigma der Transdifferenz steht noch ganz im Sinne der Transkulturalität. Es geht nämlich darum deutlich zu machen, das die Eindeutigkeit von kulturellen Zuordnungen mehr Wunsch als Realität ist. Also auch die Transdifferenz kritisiert die vereinfachten Unterscheidungen in “Wir und “die Anderen”, Frankreich und Deutschland, Mann und Frau, Fleischesser und Vegetarier.

Pole der Transdifferenz
Pole der Transdifferenz

Die Transdifferenz stellt nämlich fest, dass eine solche Ordnungslogik, viele Phänomene nicht erklären kann, die sich irgendwo zwischen den zwei konstruierten Polen verorten. So ist das Elsass eben nicht eindeutig französisch, oder eindeutig deutsch, sind Intersexuelle eben nicht eindeutig Mann oder Frau, essen eben manche Vegetarier auch Fisch …

Der Begriff Transdifferenz zielt auf die Untersuchung von Momenten der Ungewissheit, der Unentscheidbarkeit und des Widerspruchs, die in Differenzkonstruktionen auf der Basis binärer Ordnungslogik ausgeblendet werden. Es soll demnach ermöglichen, das in den Blick zu nehmen, was der kognitiven, aber auch der imaginativen Erfassung durch das Denken der Differenz entgeht. Unter Differenzen werden hier vor allem binäre Oppositionen als Ordnungskategorien verstanden.1

Die Silbe “trans” hat daher eben auch eine ähnliche Bedeutung, wie bei der Transkulturalität:

In einem allgemeinen Sinn – und im Anschluss an die Bedeutung ›quer hindurch‹ der Vorsilbe ›trans‹ – bezeichnet Transdifferenz all das Widerspenstige, das sich gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen sperrt, weil es gleichsam quer durch die gezogene Grenzlinie hindurch geht und die ursprünglich eingeschriebene Differenz ins Oszillieren bringt, ohne sie jedoch aufzulösen.2

Keine Auflösung von Differenz-Konstrukten

So, und jetzt kommt nämlich der Unterschied zur Transkulturalität. Anders als bei der Transkulturalität, werden Differenzen nicht aufgehoben, werden die beiden konstruierten Pole eines Gegensatzes nicht aufgelöst. Im Gegenteil. Transkulturalität wird dafür kritisiert, dass das Konzept Differenzkonstrukte intellektuell auflöst, auch wenn die Pole durch Ihre Verbreitung und Anerkennung einen nicht zu übersehenden Wirklichkeitscharakter haben. Nicht dass es also Männer und Frauen wirklich und trennscharf gäbe! Aber der weitgeteilte Glaube an diese Geschlechter, zusammen mit den damit verbundenen Kulturen, erzeugt eine solche Stabilität dieser Vorstellung, dass es sie de facto dann eben doch gibt.

Der Begriff der Transdifferenz stellt die Gültigkeit binärer Differenzkonstrukte in Frage, bedeutet jedoch nicht die Aufhebung von Differenz. Das heißt, dass Differenz gleichzeitig eingeklammert und als Referenzpunkt beibehalten wird: Es gibt keine Transdifferenz ohne Differenz. Transdifferenz ist nicht als Überwindung von Differenz, als Entdifferenzierung oder als höhere Synthese misszuverstehen, sondern bezeichnet Situationen, in denen die überkommenen Differenzkonstruktionen auf der Basis einer binären Ordnungslogik gleichsam ins Schwimmen geraten und in ihrer Gültigkeit temporär suspendiert werden, ohne dass sie damit endgültig dekonstruiert würden.3

Transdifferenz Modell
Transdifferenz Modell

Transdifferenz- das sowohl, als auch

Der Clou an der Transdifferenz ist also die Bejahung von Differenzen auf der einen Seite (Ja, es gibt die Vorstellung von “Weißen” und “Schwarzen”) und die gleichzeitige Überwindung oder Infragestellung dieser Differenzen. So ist die vielfältige Farbskala der menschlichen Haut überall auf der Erde ein deutlicher Beleg dafür, dass die Differenzierung “Weiß” und “Schwarz” nicht funktioniert. Und genau an dieser Stelle entsteht Transdifferenz.

Die bestehenden Differenzen treffen in einem Grenzraum (in der Transdifferenz) aufeinander, dort verlieren sie „ihre Klarheit und Eindeutigkeit“, weil sie einander überlagern.4

Die Differenzen sind da, aber sie werden gleichzeitig wiederlegt. Das hört sich Paradox an und ist aber eben genau dies. Das Denken des “Sowohl, als auch …” fällt besonders vielen Europäern bis heute schwer. Rationalität und Logik denkt hier eher in „entweder-oder“-Dichotomien. Dagegen werden z.B. in der chinesischen Denktradition Gegensätze  schon seit Jahrhunderten als sich bedingende Pole ein und derselben Einheit verstanden. So gedacht gibt es eben nicht nur die allauflösende Verbindung und Durchdringung des Transkulturellen, sondern gleichzeitig auch die differenzierende Trennungskonstruktion des Interkulturellen. Transdifferenz ist also genau das Zusammendenken von Differenzierung auf der einen und Verbindung auf der anderen Seite. Gleichzeitig!

Transdifferenz erklärt uns aber damit beides, die Phänomene der Differenzierungen und gleichzeitig auch die Phänomene die diesen Differenzierungen wiedersprechen.

Beispiel sexuelle Identitäten

Die binäre Unterscheidung von Homo- und Heterosexuellen z.B. hat sich als ungenügend erwiesen, da sie andere existierende Identitäten, wie z.B. Bisexuelle, ausschließt. Das Festhalten an dieser Unterscheidung hat laut Moebus den Zweck, „Normalität und Anormalität” zu produzieren, das heißt sowohl Mechanismen zur Exklusion und Produktion spezifischer Anderer zu entwickeln, als auch Unterscheidungen zwischen „wahrer“ und „falscher“, „normaler“ und „perverser“ Sexualität zu ziehen.5

Das heißt, durch die Festlegung dieser Unterscheidungen wird der Bereich des Möglichen definiert und symbolische Gewalt (im Sinne von Bourdieu) ausgeübt, indem Individuen in ihrer Freiheit der Identitätswahl eingeschränkt und in den definierten Bereich verwiesen werden. In der Praxis wird diese binäre Unterscheidungsstruktur aber vielfach gesprengt.

So sind die diversen existierenden sexuellen Praktiken und Identitäten ein gutes praktisches Beispiel der Realität des oft etwas abstrakten Konstrukts der transdifferenten Identitäten im Sinne eines „Sowohl-als-auch“.

Moebus zeigt übrigens auch, dass aufgrund der realen Vielfalt von Unterscheidungen sexuelle Identitäten immer wieder neu konstruiert werden und ihre „binären Codes“  verlieren.6

Kritik Transdifferenz

Das Konzept der Transdifferenz ist ein wissenschaftliches, sozial-philosophisches Konzept. Ein Kritikpunkt an dem Transdifferenz-Ansatz ist daher dessen mangelnde empirische Basis. Die Texte zu Transdifferenz sind darüber hinaus schwer lesbar und alles andere als allgemein verständlich.

Doch selbst für wissenschaftliche Kreise bleibt das Konzept weiterhin uneindeutig und vielfach missverständlich, was jedoch sicherlich auch in der Natur des Phänomens liegt. Kien Hghi Ha z.B. bezweifelt in seinem sehr kritischen Beitrag, ob das Konzept der Transdifferenz ausgereift bzw. wissenschaftlich lebensfähig ist. Er bezweifelt, dass ein so widersprüchliches Konzept vereinheitlicht und präzisiert werden kann, da es darauf angewiesen sei, die Differenz ständig infrage zu stellen, sie aber gleichzeitig nicht aufzulösen, sondern in ihrer Komplexität zu erhalten. Dies bewertet Ha als eine gleichzeitige Vertretung von zwei gegensätzlichen Positionen.

Auch die Abgrenzung von anderen kulturwissenschaftlichen Begriffen wie z.B. Hybridität, queer, oder Transkulturalität bleibt problematisch.7

Weitere Präzisierungsarbeit an der Definition des Begriffs, eine klare Abgrenzung von anderen, ähnlichen Konzepten, sowie empirische Studien sind sicherlich notwendig.  Das Ergebnis könnte dann allerdings vielversprechend sein, sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis.

Literatur

Lösch, Klaus (2005). Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte, in Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer & Arne Manzeschke (Hrsg.), Differenzen anders denken, Frankfurt/M., S.26-49. Online abrufbar unter Uni-Bremen.

Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer, Britta/Manzeschke, Arne (Hrsg.). (2005): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main.

Weitere Kulturkonzepte

Interkulturalität, Transkulturalität, Hyperkulturalität, Multikulturalität

  1. Lösch, Klaus (2005). Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte, in Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer & Arne Manzeschke (Hrsg.), Differenzen anders denken, Frankfurt/M., S.26-49. Online abrufbar unter Uni-Bremen.
  2. Ebd.
  3. Ebd.
  4. Geisen, Thomas, in:  Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer, Britta/Manzeschke, Arne (Hrsg.). (2005): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main. S.171
  5. Moebus, Stephan, in: Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer, Britta/Manzeschke, Arne (Hrsg.). (2005): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main. S.194
  6. Ebd.S.209
  7. Ha, Kien Hghi, in: Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer, Britta/Manzeschke, Arne (Hrsg.). (2005): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main. S.49

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