Die Beziehungen zwischen globalem Norden und globalem Süden, sind bis heute fundamental geprägt von einer gemeinsamen Vergangenheit der Kolonisierung.

Der europäische Kolonialismus

Es gab viele Formen von gewaltsamer Besetzung/ Kolonialisierung in der Menschheitsgeschichte, nicht nur von europäischer Seite. Warum spielt gerade dieser europäische Kolonialismus noch heute eine so wichtige Rolle, dass wir ihn noch heute bei der Betrachtung von globalen Machtstrukturen beachten müssen?

Der europäische Kolonialismus ist einzigartig, was das Ausmaß angeht. 1914 waren 85% der Erde von Europäer_innen besetzt!.


Die Erde von Europäer_innen besetzt

Der europäische Kolonialismus ist auch einzigartig, was die Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen angeht, die im Zuge dieser Epoche weltweit entstanden sind.

So wurden Millionen von Menschen umgesiedelt und ganze Regionen und Kontinente demografisch umgestaltet (Nord-Amerika, Karibik, Australien, Sibirien …). Zwischen 1519 und 1867 wurden allein etwa 11,06 Millionen Afrikaner nach Amerika verschleppt. Auf der folgenden Karte des afrikanischen Kontinents ist sehr gut zu sehen, wie koloniale Grenzziehungen (auf dem Reißbrett) die ethnischen und sprachlichen Gruppen des Kontinents ignorierten.

Die nächste Karte dreht die Perspektive um. Der schwedische Künstler Nikolaj Cyon fragt sich “What Africa might look like  if it had never been colonized”. Er nennt den Kontinent darauf Alkebu-lan, wie ihn auch Pan-Afrikanische Aktivisten nennen, nach einer indigenen Selbstbezeichnung. Mehr auf der Originalseite

Wie sähe Afrika aus, wenn es nicht kolonialisiert wäre? Eine Projektion von Nikolaj Jesper Cyon.
Wie sähe Afrika aus, wenn es nicht kolonialisiert wäre?

Tägliche Gewalt/ Diskriminierungen/ Demütigungen

Nach den Anschlägen des 11. September gab es in vielen Regionen des Nahen Ostens spontane Freudensbekundungen, die in den europäischen Medien auf Unverständnis stießen. Der Schriftsteller Orhan Pamuk erklärte das Gefühl der Befriedigung, welches er auch in Istanbul wahrnimmt damals so:

Die westliche Welt ist sich kaum dieses überwältigenden Gefühls der Demütigung bewusst, dass die meisten Menschen auf der Welt empfinden (…) Der Westen steht vor dem Problem, dass er nicht nur herauszufinden hat, welcher Terrorist in welchem Zelt in welcher Höhle, auf welcher Straße welcher Stadt gerade eine Bombe vorbereitet, sondern auch die arme, verachtete und ungerechte Menschheit verstehen muss, die nicht zur westlichen Welt gehört.

Deutscher Kolonialherr
Deutscher Kolonialherr

Das Zitat stammt aus dem Buch von Pankaj Mishra: “Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens”.1

Darin Beschreibt Mishra ausführlich, wie Intellektuelle aus Asien und dem Nahen Osten den Kolonialismus als schwere Demütigung ihrer eigenen Würde und kultureller Traditionen wahrnahmen.

Die Herrschaft in den Kolonien Europas war geprägt von Gewalt, Abwertung und Demütigung, von alltäglicher Bevormundung und ungleicher Arbeitsteilung bis zu Sklavenhaltung und Völkermorden. So wurden 1904-1908 beim Aufstand der Herero und Nama 85.000 Herero und rund 10.000 Angehörige des Nama-Volkes ermordet

Glaube an die höheren Weihen der Kolonisation

Die theoretischen Grundlagen dazu waren die Idee der unversöhnlichen Fremdheit und der Glaube an die höheren Weihen der Kolonisation.

So formulierte Emanuel Kant 1802: In den heißen Ländern reift der Mensch in Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperierten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. […] Daher haben diese Völker zu allen Zeiten die anderen belehrt und durch die Waffen bezwungen.

Als Kennzeichen von “Menschlichkeit” sah Hegel die “Rationalität”, welche er in Europa verortete. Den Weißen als „Träger[n] des Geistes“ kommt in Hegels Philosophie aufgrund ihrer angenommenen “geistigen” Überlegenheit die Aufgabe zu, „den Rest der Welt zu humanisieren“.

1910 leitete auch Jules Harmand in “Domination et colonisation” aus der eigenen Überlegenheit ein Recht auf Herrschaft ab:  Wir müssen deshalb als Prinzip und Ausgangspunkt die Tatsache nennen, daß es eine Hierarchie von Rassen und Zivilisationen gibt, und daß wir zur überlegenen Rasse und Zivilisation gehören, wobei wir jedoch anerkennen müssen, daß die Überlegenheit zwar Rechte verleiht, aber andererseits auch strikte Verpflichtungen auferlegt. Die grundlegende Rechtfertigung für die Überwältigung eingeborener Völker ist die Überzeugung von unserer Überlegenheit, nicht nur unserer mechanischen, ökonomischen und militärischen Überlegenheit, sondern unserer moralischen Überlegenheit. Unsere Würde beruht auf dieser Eigenschaft, und sie liegt unserem Recht zugrunde, den Rest der Menschheit zu beherrschen. Materielle Macht ist lediglich ein Mittel zu diesem Ziel.

Die Ökonomin Joan Robinson formulierte: Die einzige Sache, die Schlimmer ist als kolonialisiert zu werden, ist nicht kolonialisiert zu werden.

Rassismus legitimiert Beherrschung

Die Legitimation beruhte also auf einer hierarchischen Einteilung von “Rassen”, wobei die “Rasse der Weißen” nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hatte, den Rest der Menschheit zu beherrschen und ihm dadurch einen Dienst zu erweisen. Eindrucksvoll hat diese Selbstermächtigung der Autor des berühmten Dschungelbuchs Rudyard Kipling in seinem Gedicht “The White Man’s Burden” dargestellt. Das Gedicht wurde unter dem Eindruck der US-amerikanischen Eroberung der Philippinen und anderer ehemaliger spanischer Kolonien verfasst. Es erschien erstmals 1899:

Des weißen Mannes Bürde

Nimm auf des weißen Mannes Bürde –
Die Söhne sende fort,
Um wildem Volk zu dienen
An einem fremden Ort;
Den finsteren Gestalten,
Die stur und mürrisch sind –
Den neuen Untertanen,
Halb Teufel noch, halb Kind.

Nimm auf des weißen Mannes Bürde –
Geduldig zu beharren,
Nicht Schrecken zu verbreiten,
Vor Stolz sich stets bewahr’n;
Mit einfach-off’nen Worten,
Erklär es hundertmal,
Du suchst nur ihren Vorteil,
Und sei’s dir selbst zur Qual.

Nimm auf des weißen Mannes Bürde –
Den harten Friedenskrieg.
Bekämpf’ die Hungersnöte,
Die Krankheiten besieg’;
Um ihretwillen strebend,
Das Ziel schon fast in Sicht,
Schau’ wir der Heiden Torheit
Dein Hoffen macht zunicht’.

[…]

Die Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Rasse als Legitimation für Kolonialismus und Gewalt scheint weit in der Vergangenheit zu liegen. Dennoch ist das Muster noch heute aktiv. Die letzte zitierte Zeile des Gedichts erinnert mich jedenfalls sehr an zeitgenössische Selbstwahrnehmung der Europäer und Amerikaner, als Retter der Welt, die Friedenskriege zum Besten der Menschheit führen. Bis heute verstehen sich die USA und die EU als “Treuhänder der Freiheit”, deren Kriege pädagogische Übungen sind, um Demokratie, Entwicklung und freie Märkte in jeden Winkel der Erde zu bringen, wie die Bush-Administration 2002 wörtlich versprach.

Ökonomische Ausbeutung und Plünderung der Kolonien

Europas Aufschwung seit 1492 und Wohlstand ist eng verwoben mit Kolonialismus und der sogenannten Moderne. Der Soziologe Patrick Manning bringt diesen Fakt auf den Punkt:

Betrachtet man die Geschichte der Industrialisierung isoliert, erscheint sie als eine europäische Erfolgsgeschichte, die zu Wachstum, Fortschritt und Befreiung von harter Knochenarbeit führte. Aber in Afrika brachten die gleichen Kräfte kein Wachstum, sondern Bevölkerungsschwund. Das Verständnis von Wachstum in der modernen Weltwirtschaft muss erneuert werden und die Erfahrungen Afrikas aufnehmen-weil dieser riesige Kontinent durch Sklaverei mit den Plantagen in der neuen Welt und Europas Industrien verbunden war.

Die nachhaltigen landwirtschaftlichen Traditionen der Kolonien wurden aufgebrochen.  Die natürlichen Landschaften in den Kolonien wurden mit dem Anlegen von Monokulturen (Kautschuk in Vietnam, Baumwollfelder in Indien, etc.) missbraucht und die Böden dem Bedarf der europäischen Bevölkerungen unterstellt. Darüber hinaus kam es zum Raub von Menschen, Bodenschätzen und anderen natürlichen Ressourcen. Der Kolonialismus hat damit das Reicher werden Europas und das gleichzeitige Ausbluten der Kolonien zu verantworten.

Die Tatsache der ungleichen Verteilung des globalen Reichtums in der Gegenwart lässt sich nicht trennen, von den Praktiken des Kolonialismus in den letzten Jahrhunderten. Die folgenden Karten visualisieren diese Tatsache eindrücklich:

Globale Wohlstandsverteilung um 1500
Globale Wohlstandsverteilung um 1900
Globale Wohlstandsverteilung um 1960

Aber auch der Aufstieg großer und berühmter Marken, wie z.B.  Continental oder Edeka ist eng mit dem Kolonialismus verbunden. Die Edeka-Gruppe entstand 1898, als sich 21 Einkaufsvereine aus dem Deutschen Reich im Halleschen Torbezirk in Berlin zur Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin – kurz E. d. K. – zusammenschlossen.

koloniale Spuren in Firmennamen (Logo 1919)

Kolonialisierung des Geistes

Eine wichtige Dimension des europäischen Kolonialismus war die Verbreitung europäischer Wissenssysteme. Was für Europäer_innen die jeweilige Wahrheit und der Stand des Wissens und der Wissenschaft war, wurde selbstgerecht als Norm angenommen, an der sich die Kolonisierten orientieren mussten.

Dabei konnte es sich um die angeblich richtige Religion handeln (Christentum), die richtige Wirtschaftsform (bspw. Kapitalismus), das richtige Gesundheitswesen (Schulmedizin), das richtige Erziehungswesen (Schulen nach europäischem Vorbild und Schriftlichkeit als Maß aller Dinge) oder das angeblich richtige politische System (Kampf zwischen Parteien und Winner-Takes-All-Prinzip).

Die Wissenssysteme der Gesellschaften, auf die die Europäer_innen trafen, wurde als weniger wert angesehen und nicht als wirkliches Wissen, sondern als „Aberglaube“, „traditionell“, „primitiv“ oder ähnliches abgetan.

Bibelworte als Auftrag zur kulturellen Hegemonie

Valentine Y. Mudimbe hat drei wesentliche Punkte für die kulturellen Auswirkungen des Kolonialismus formuliert:

Selbstbild der europäischen Missionare
  1. Formung des Bewusstseins der Kolonisierten und Kolonisierenden (Kolonisierung des Geistes)
  2. Unterordnung und Einordnung in europäische Wissenssysteme
  3. Die Gewaltsame Integration in das westliche ökonomische System

Mit “Kolonisierung des Geistes” ist aber auch gemeint, dass die Menschen des globalen Nordens ihre „Überlegenheit“ verinnerlicht haben, genauso wie die Bewohner_innen des globalen Südens ihre „Unterlegenheit“. Dies führt u.a. dazu, dass es bis heute ungleiche Möglichkeiten gibt, zur globalen Wissensproduktion beizutragen z.B. in der internationalen Wissenschaft, in den Medien, bzw. der globalen Öffentlichkeit. Oder kennen Sie einen global bekannten afrikanischen Nachrichtensender?

Postkolonialismus

Ist der Kolonialismus heute Geschichte? Leider nein! Auch heute noch gibt es Machtstrukturen, die an den Kolonialismus anknüpfen und diesen in neuen Form fortführen. Mehr dazu auf der Seite: Postkolonialismus

Links rings um den Kolonialismus

  1. Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Fischer 2013

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  1. Pingback: Vom Einkauf beim Kolonialwarenhändler - MAMAKIYA

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