Der Orient, eine mythische Welt aus Tausendundeiner Nacht, ein Traum von Reichtum, Weisheit und Erotik; eine Projektionsfläche europäischer Ängste, Rassismen und Sehnsüchte.
Bis heute gibt es in Kinderbüchern, Filmen, Medien die Vorstellung vom Orient als eine “Anderswelt” gefüllt mit exotisch traumhaften und vorwurfsvoll erniedrigenden Vorstellungen, Bildern und Mustern. Mit dem Begriff Orientalismus gibt es seit Jahrzehnten eine fundamentale Kritik an der Konstruktion und Behauptung dieser “Welt der Anderen”. Im folgenden eine kurze materialreiche Vorstellung des Orientbegriffs im Laufe der Geschichte und seiner Kritik.
Der Orient als Perspektivbegriff
Der Begriff Orient (=Osten) stammt aus dem lateinischen und ist abgeleitet von sol oriens, also dem Ort der aufgehenden Sonne, später auch von Martin Luther Morgenland genannt. Der Orient war ursprünglich eine der vier römischen Weltgegenden. An der römischen Achse zwischen Norden (Mitternacht) und Süden (Mittag) lag der Orient im Osten, gegenüber dem Okzident (Abendland, von sol occidens “untergehende Sonne”) im Westen.
Der Orient gibt Orientierung
Bis ins 15. Jahrhundert zeigten christliche Weltkarten den Osten oben, dort lagen nämlich die heilige Stadt Jerusalem und das Paradies. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff “orientieren”, wörtlich übersetzt “nach Osten ausrichten”. Katholische Kirchen und damit ganze Städte (wie z.B. Würzburg) wurden nach Osten, Richtung Orient ausgerichtet. Der Orient war damit eng mit der christlichen Mythologie und Heilserwartung verbunden und hatte allein daher etwas zauberhaft magisches.
Abendland als Abgrenzungsbegriff
Der Begriff Abendland ergab sich aus der antiken und mittelalterlichen Vorstellung von Europa als dem westlichsten, der untergehenden Abendsonne am nächsten gelegenen Erdteil. Laut Wolfgang Benz wurde der Begriff Abendland in der lateinischen Christenheit als “Kampf- oder Ausgrenzungsbegriff” gegenüber äußeren Feinden wie Byzanz oder dem Islam verwendet. Dabei habe aber ein einheitliches christliches Abendland nie existiert, sondern staatliches Machtkalkül eine größere Rolle als der Glaube gespielt. Der Begriff hatte an Bedeutung verloren, bis ihn die Protestbewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ , PEGIDA wiederaufgegriffen hat.
Wo liegt der Orient
Der Orient ist eine imaginäre Raumkonstruktion. Es hat ihn nie als Staat oder Reich gegeben. Was darunter verstanden wurde, hat sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Während früher die gesamte asiatische Welt, das heißt die arabischen Länder, Iran, Indien und China als Orient galten; später dann nur die Länder Vorderasiens mit Ägypten und die meisten islamischen Kulturen dazu zählten; tendiert der heutige Sprachgebrauch dazu, den Begriff auf den Nahen Osten und die arabisch-islamische Welt – einschließlich Türkei, Iran, Afghanistan und Nordafrika, aber ohne die islamischen Staaten Süd- und Südostasiens – zu beziehen.
Orient und Islam
Orient und Islam wurden und werden oft zusammen gedacht. Seit dem Mittelalter waren für die Menschen in Europa die Länder des Orients (von der heutigen Türkei bis nach Indien) vor allem muslimisch geprägt. Die Wahrnehmung und Konstruktion des Orients ist damit oft auch eng verbunden mit der Bewertung und Wahrnehmung des Islam. Besonders das mittelalterliche Islambild hat die Vorstellung des Orients bis heute stark geprägt.
Islambild im europäischen “Mittelalter”
Zwischen dem 12. und 14.Jahrhundert entsteht in Europa mit den Kreuzzügen ein negatives Bild vom Islam, das das europäische Denken seither stark beeinflusst. Um gegen die damals überlegenen muslimischen Reiche in den Krieg zu ziehen, wurde folgende Vorwürfe kulturell verankert:1
- Der Islam ist eine falsche Religion und Mohammed hat die Wahrheit bewusst verkehrt und ist damit der “Antichrist”
- Der Islam ist eine Religion der Gewalt und des Schwertes
- Der Islam ist eine Religion der hemmungslosen Genusssucht
Alle drei Vorwürfe sind typische “Gegenentwürfe” um das eigene Selbstbild zu definieren und aufzuwerten. Über den sogenannten “othering-Prozess”, werden die Muslime zu den Anderen gemacht. Sie sind das genaue (negative) Gegenteil der eigenen (positiven) christlichen Selbstwahrnehmung. Wenn der Islam die falsche Religion ist, dann ist das Christentum die Richtige. Dem Bild vom Islam als Religion der Gewalt entspricht das Gegenbild vom Christentum als einer Religion des Friedens, die sich durch das überzeugende Wort (und nicht durch das Schwert) ausbreitet. Die Vielehe und das Eheleben Mohammeds bot den Christen die Möglichkeit, den Islam als sexuell zügellos und hemmungslos genusssüchtig zu diffamieren und im Gegensatz zur christlichen Keuschheit und Askese darzustellen.
Das Bild, das Gelehrte in dieser Zeit entwarfen, erlaubte es anderen Christen, den Kampf gegen die Muslime als Kampf des Lichtes gegen die Finsternis zu führen. In einer Darstellung (s.u.) aus dem 13.Jahrhundert sind die “Ungläubigen” als Monsterwesen dargestellt, gegen die die christlichen Heere vorrücken. In den kommenden Jahrhunderten ist der berechtigte Kampf gegen die Muslime bzw. “die Orientalen” ein wesentliches Element des europäischen Selbstverständnisses.
Die Vorwürfe gegen den Islam waren sicherlich auch eine Form mit dem latenten eigenen Minderwertigkeitsgefühls umzugehen. Europa konnte über Jahrhunderte nur von dem Wohlstand, Reichtum und den wissenschaftlichen Errungenschaften der muslimischen Welt träumen.2 So mischten sich Neid und Eifersucht auch zu dem Vorwurf der Orientalen Dekadenz, einem weiteren wichtigen Element des späteren Orientalismus.
Orientalen in christliche Kirchen
In Würzburger Kirchen zum Beispiel, sind Menschen mit orientalischen Gewändern entweder als die drei Könige aus dem Morgenland dargestellt (die vor dem christlichen Messias niederknien und ihn huldigen) oder, während der sogenannten “Türkenkriege” im 17.Jahrhundert, auch um die Kreuzigung Christi mit den Muslimen in Verbindung zu bringen.
Der Orient wurde oft als roh, gewalttätig und bedrohlich dargestellt. Der Orient als andersartige “Gegenwelt” hatte aber für Europa auch eine anziehende Seite. Einige Europäer projizierten mit Beginn des Kolonialismus ihre eigenen Wunschgedanken in die “Exoten“ in den für sie neu erschlossenen Welten.
Der Orient als exotische Traumwelt
Der Orient von Ägypten bis China wurde im 18. und 19. Jahrhundert zu einer Traumwelt, die in der Malerei der Orientalisten phantasievoll abgebildet wurde. Kuppeln und Rundbögen von osmanischen und maurischen Sakral- und Palastbauten fanden sich in gänzlich anderem Sinnzusammenhang in der orientalisierenden Architektur europäischer Großstädte wieder. Die große Synagoge in Berlin im maurischen Stil ist nur ein Beispiel dafür.
Orientalistische Literatur
Die “orientalische Welt” inspirierte viele Dichter und Schriftsteller, siehe z. B. Goethes „West-östlicher Divan“ oder Hesses Roman „Morgenlandfahrt„. Der genannten Literatur liegt eine romantische Verklärung des Orients zugrunde, wie sie erst nach 1683 entstehen konnte, als mit dem Rückzug der osmanischen Truppen am Ende der Zweiten Wiener Türkenbelagerung für Europa die Gefahr einer Eroberung durch den Osten geringer eingeschätzt wurde.
Die Märchensammlung “Die Karawane” von Wilhelm Hauff, welche die bis heute bekannten Märchen „Die Geschichte vom Kalif Storch“ und „Die Geschichte von dem kleinen Muck“ enthält, erschien im November 1825. Die Märchen des schwäbischen Dichters spielen im „Orient“ und tradieren phantasievolle Vorstellungen und Stereotype über den „Orient“ in die Kinderstuben von Generationen.
Von 1881 bis 1888 erschien der sogenannte Orientzyklus, eine Serie von Romanen des Schriftstellers Karl May die eine breite Leserschaft fanden über den Inhalt gibt der Titel des ersten Romans „Durch die Wüste, durch den Harem“ einen recht deutlichen Eindruck.
Auch das Buch von Franz Karl Ginzkey „Hatschi Bratschis Luftballon“ hat Generationen von Kindern in seinen Bann gezogen. Seine stereotypen und rassistischen Inhalte wurden erst in den 60er Jahren kritisiert. Dennoch ist das Buch (in einer sprachlich veränderten Version) noch heute auf dem Markt.
Orientalistische Kunstwerke
Zahlreiche europäische Maler des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts huldigten dem Mythos des Orients als Ort der Sinnlichkeit, der Mystik und der Dekadenz. Vor allem die damals höchst beliebten Haremsszenen zum Beispiel von Eugène Delacroix oder Jean-Léon Gérôme sind hier zu nennen. Sie knüpfen an die Wahrnehmung der hemmungslosen, lüsternen Welt des Islams aus dem Mittelalter an und tragen so zu einer Aufrechterhaltung dieser Fremdbilder bei. Einen bildlichen Eindruck über den Orientalismus in der Kunst verschafft das Buch “Kultur Pur: Orientalismus – Das Bild des Morgenlandes in der Malerei” von Gérard-Georges Lemaire.
In vielen Städten Europas entstanden im 19. Jahrhundert Kaffeehäuser im “orientalischen Stil” …
Produkte wie Tabak, Parfüm, Tee oder Kaffee wurden mit “orientalischen” Mustern und Motiven versehen und damit exotisiert …
Feminisierung des Orients
Im Kolonialdiskurs des 18./19. Jahrhunderts bilden Orient und Okzident ein ungleiches Paar, worin immer deutlicher der Vergleich zwischen Mann und Frau gemacht wird:
“Man(n) nimmt die arabisch-islamische Welt wie das weibliche in ihrer negativen Dimension wahr, weil sie als Beweis dafür dient, was der maskuline Okzident in seiner positiven Natur zu sein vorgibt. Das männliche Europa transzendiert sich zu einem universellen Subjekt, indem es den Orient als weibliches Objekt immanentisiert.”3
Edward Said: Orientalismus als wissenschaftliche Kritik
Seit den 1970er Jahren hat das Konzept einer Trennung von Orient und Okzident heftige Kritik erfahren. Angestoßen hatte die sogenannte “Orientalismusdebatte” der Wissenschaftler Edward Said mit seinem Buch Orientalismus.
Drei zentrale Thesen ziehen sich durch Saids Werk: Erstens, Orientalismus diene (macht-)politischen Interessen, zweitens Orientalismus versichere Europa der eigenen kulturellen und intellektuellen Überlegenheit und drittens, Orientalismus operiere mit essentialistischen Zuschreibungen und Stereotypisierungen, die die arabische Kultur als statisch, homogen und minderwertig konstruieren. Nach Said ist das westliche Bild des Orients bis heute voller unbewusster Vorurteile und Verzerrungen, die der Realität nicht gerecht werden.
Das Werk stellte aber auch eine Abrechnung mit der britischen und französischen Wissenschaft der Orientalistik dar. Deren Vertreter würden, so Said, oftmals ein ideologisch vorgegebenes Ziel – die politische Unterwerfung der studierten Völker – verfolgen; ein „aufgeklärter Westen“ wolle einen „mysteriösen Orient“ beherrschen. Nach Said führt aber bereits die Vorstellung einer grundsätzlichen Dichotomie von Abendland und Morgenland in die Irre.
Saids Analysen beschränken sich allerdings zeitlich vor allem auf das 19. und 20. Jahrhundert und auf die britischen, französischen und US-amerikanischen Kolonialmächte im Orient sowie auf die islamisch-arabischen Regionen. Damit bleiben weite Teile des Orients – Indien, China, Japan, und andere fernöstliche Länder – unberücksichtigt. Diese Lücke hat Richard King’s “Orientalism and Religion” versucht aufzufüllen.4 King betrachtet besonders Indien und die Orientalisierung des Hinduismus und des Buddhismus.
Eine gute Einführung in Saids Thesen geben folgende Videos:
Literatur zum Orientalismus
Eine gute Einführung und Auseinandersetzung mit den Thesen von Said findet man z.B. in:
- Edwart Said: Der orientalisierte Orient, in: María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, transcript-Verlag 2005.
Eine kurze Einführung bietet auch der auch der umfangreiche Artikel “Orientalismus” von Felix Wiedemann.
Orientalistisches Othering
Nach Said gibt es seit dem 18.Jahrhundert mit den Eroberungen Napoleons in Nordafrika auch den Versucht, die Länder auch durch die Wissenschaft zu beherrschen und zu kolonialisieren. Die Orientalistik entstand, um zu begründen, warum ganze Erdteile schlechter und niederer als die “westliche Zivilisation” sind, und daher von den Europäern beherrscht werden dürfen. Der “aufgeklärte Westen” wurde dem “mysteriösen Orient” gegenüber gestellt. Aus dieser Definitionsmacht resultierten, so Said, exotistische, kulturalistische und auch offen rassistische Bilder, welche der Legitimierung der Kolonialisierung des Orients dienten. Damit wurde auch die ungebrochene Tradition einer tief sitzenden Feindseligkeit gegenüber dem Islam in der Neuzeit fortgeführt.
Orientalismus Heute
Gibt es den Orient als Konstruktion heute noch? Leider ja. Auch wenn es immer weniger um die Bezeichnung einer Weltregion geht, so lassen sich die Muster des Orientalismus leider noch in vielen Bereichen des heutigen Lebens entdecken.
Orientalismus in der Tourismusindustrie
Am Auffälligsten sind sicherlich die Spuren in Reisekatalogen. Hier werden touristische Angebote unter dem Namen “Orientreisen” angeboten und damit mit den Vorstellungen vom mythischen, faszinierenden Orient “aus tausend und einer Nacht” verkauft … In den Anzeigen finden sich sowohl optische Orientmuster (Arabesken) als auch inhaltliche. So beschreibt die Reisewerbung eines Anbieters 2016 den Orient als “andere Welt” und knüpft damit an die Tradition an, den Orient als “fremd”, “anders”, ja als Gegenwelt zu Europa bzw. dem “Westen” zu beschreiben …
Orientreisen
Reiseanzeige
Eine Reise in den Orient ist wie die Reise in eine andere Welt, obwohl die orientalischen Lander in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel gar nicht so weit entfernt sind. Aufgrund seiner Nähe zum Äquator kann der Orient mit ganzjährigem Sonnenschein und Temperaturen um 25 Grad Celsius aufwarten. Weitreichende Wüsten Landschaften erlauben einmalige Urlaubserlebnisse wie Kameltouren, Nachte unter freiem Sternenhimmel oder eine Offroadfahrt über die Dünen. Doch der Orient hat auch exotische Tierarten und atemberaubende Naturschauspiele zu bieten – wie Kamelkarawanen oder die Eiablage der grünen Meeresschildkröte.
Exotisch, schillernd und faszinierend
Tauchen Sie mit einer Orientreise ein in die faszinierend-exotische Welt, die nur sechs Stunden Flugzeit von Deutschland entfernt liegen. Sie lernen gerne neue Kulturen kennen, möchten farbenfrohe Basare erleben oder mit einer Kamel-Karawane durch die Wüste wandern? Dann sind Sie in den Ländern der aufgehenden Sonne gut aufgehoben. Ob in der Stadt der Superlative Dubai, der größten Stadt der arabischen Welt Kairo oder im exotischen Marrakesch – die Metropolen im Orient werden Sie verzaubern. Klimatisch sollten Sie als Urlauber im Orient auf hohe Temperaturen am Tag und niedrige Temperaturen in der Nacht sowie wenig Niederschlag eingestellt.
…in einem weiteren Absatz werden dann die Märchen (und damit die Überlieferungsquelle der Traumvorstellungen) erwähnt … sie scheinen real zu sein … schließlich werden den Reisenden viele Stereotype und Elemente der Märchenwelt zur Besichtigung angeboten …
Schätze des Orients
Reiseanzeige
Jahrtausendealte Kulturschätze, atemberaubende Landschaften und das Märchen aus 1,001 Nacht – all das macht den Orient zu dem, was er ist. Besuchen Sie in den Städten die zahlreichen Basare und Souks, die traditionellen Märkte. Hier finden Sie auf ihrer Orientreise exotische Gewürze, wertvolle Stoffe, orientalischen Schmuck oder frische Früchte. Entdecken Sie majestätische und oft reich verzierte Moscheen und Tempel und beobachten Sie die rote Abendsonne beim Untergang über der weiten Wüstenlandschaft …
In anderen Werbungen werden Klischees und Stereotype zu bestimmten Ländern und Regionen reproduziert. Auch der Slogan “Magie des Reisens” z.B. knüpft an exotische Vorstellungen von einem nicht natürlichen, sondern zauberhaft, magischen Orient an …
Orientalistische Muster in der Werbung
Auch heute noch dienen “magische”, “zauberhafte” Assoziationen vom traumhaften “Orient” dazu, “exotische” Produkte wie Tee, Gewürzmischungen oder Fastfood zu verkaufen. Auf den Packungen finden sich Arabesken, maurische Bögen, Turbane und Wasserpfeifen … auch die Märchensammlung 1001 Nacht wird mehrfach explizit genannt …
Orientalismus in Filmen und der modernen Unterhaltungskultur
Der magische Orient ist immer noch Teil der weltweiten Unterhaltungskultur. Disney & Co nutzen die tradierten Bilder ohne zu hinterfragen, ob diese nicht letztlich herabwürdigend und unter kolonialem Selbstverständnis entstanden sind. In den folgenden Beispielen sind klassische orientalistische Muster wiederzufinden …
Gefährliches Othering
Wie in der folgenden Zusammenstellung zu sehen ist, werden die “fremdartigen Zaubergegenstände” auch von rechten Parteien benutzt, um “die Anderen” aus dem Land zu fliegen. Wie in der letzten Zusammenstellung zu sehen ist, werden die “fremdartigen Zaubergegenstände” auch von rechten Parteien benutzt, um “die Anderen” aus dem Land zu fliegen.
Hier wird deutlich, wie schnell aus “Kinderkram” und scheinbar gutartiger Unterhaltung Elemente benutzt werden können, um Menschen auszuschließen. Denn dazu wurde der Orient ja erdacht, um einen Unterschied zwischen “wir” und “den Anderen” aufzubauen. Solange diese Elemente, so bunt und harmlos sie auch erscheinen mögen, durch unsere Medien geistern, solange können sie auch wieder benutzt werden, um Menschen und Weltregionen als “Anders” zu markieren, um sie ggf. auszuschließen oder zu diskriminieren …
Das orientalistische Muster auch über Kinderlieder, Kinderkanäle und Youtube weiter Verbreitung finden zeigt das folgende Video eines in Deutschland populären Kinderlieds, welches in vielen Kindereinrichtungen in Deutschland täglich gesungen wird. Zu dem Lied werden Handbewegungen gemacht, die u.A. auch das muslimische Gebet imitieren … Im Video werden indische, arabische und weitere Stereotype (vor allem aus orientalistischen Märchen) benutzt, um das Lied mit seinen fremdartig klingenden Zeilen zu illustrieren …
Orientalismus als Teil der modernen Populärkultur
Regisseure wie Ridley Scott oder Pop-Gruppen wie Boney M. haben alle etwas gemeinsam – sie beeinflussten und beeinflussen unser Orient-Bild mehr, als dies wissenschaftliche Berichte oder Dokumentationen je könnten. So hat Madonna mithilfe von Orientalismen Image-Veränderungen eingeleitet, 50 Cent reichert Musikvideos mit sexuellen Haremsfantasien an und Eminem löst gezielt Angstkitzel mit Anspielungen auf islamistisch-terroristische Bedrohungen aus.5
In seinem Buch “Der Orient-Komplex. Das Nahost-Bild in Geschichte und Gegenwart” entwirft Thomas Kramer ein Panorama medialer Wahrnehmung des Nahen Ostens in der abendländischen Kultur zwischen Antike und Gegenwart. Er beschränkt sich dabei nicht auf den akademischen Bereich, sondern erweitert den Blickwinkel um das breite Spektrum der Populärkultur. Den Einfluss und Funktion von Orientalismus in der Musikindustrie beleuchtet Henrik Wyrwich in seinem Buch “Orientalismus in der Popmusik” erschienen 2013 im Tectum Verlag.
Das letzte Video stammt von Coldplay. Zu den dort gezeigten stereotypen und orientalisierenden Darstellung von Indien gab es viele Proteste. Mehr dazu hier
Es ist überraschend, wie sehr Unterhaltungsmedien wie Abenteuerromane, Filme oder Computerspiele landläufige Orientbilder auch heute noch im Zeitalter der aktuellen Berichterstattung prägen. In amerikanischen Filmen z.B. findet man bis heute latente Vorwürfe gegen den gewaltbereiten Islam, die wiederum die Gewalt der amerikanischen Helden gegen “islamische Terroristen” legitimieren sollen. Und die Filme, überzeugen sie nicht die Zuschauer Amerikas und Europas, dass der “Nahe Osten” rückständig, gewalttätig und brutal ist und das eine militärische Intervention der Kräfte des “Guten” gegen die Kräfte des “Bösen” nur legitim ist? In dem Sinne können orientalistische Muster bis heute Machtstrukturen auf der Welt unterstützen. Das zeigt auch ein Blick in unsere Medien.
Orientalismus in den Medien
Die folgenden Covertitel von deutschen Zeitschriften greifen bildlich und sprachlich wesentliche Muster des Orientalismus auf. Arabesken, maurische Bögen und Architektur und der Sternenhimmel mit Halbmond sorgen optisch für den exotischen Flair. Frauen mit Kopftuch werden spannungsreich einer Haremsdarstellung und Bildern von leichtbekleideten Frauen gegenüber gestellt. Hier ist also beides präsent: der latente Vorwurf einer strengen und frauenfeindlichen Religion (Sünde) auf der einen und der einer ungezügelten dekadenten Lust (wie schon im Mittelalter und im 19.Jh.). Die Worte sprechen von einer “geheimnisvollen” Religion und von einem “Mythos”. Der Islam und seine heilige Stadt erscheinen damit geheimnisvoll verboten und exotisch und gleichzeitig auch mythisch und magisch anziehend …
Orientalismus und Machtstrukturen
Sollten sich die Kritiker nicht entspannen und Unterhaltung und Medien nicht einfach ein bisschen Stereotyp und exotisierend sein lassen? Ich sage nein! Musik, Filme, Medien haben eine enorme Reichweite und damit auch eine Verantwortung. Über Jahrhunderte wurden koloniale Bilder des “Orients” als eine traumhafte und schreckliche Gegenwelt Europas aufgebaut. Diese Bilder prägen bis heute unsere Vorstellungen und sind voll von Rassismus. Hinter der farbigen exotischen Folie dieser Bilder stecken abwertende Vorstellungen über den Nahen- und Fernen Osten, die zur Selbstaufwertung des selbsterklärten “Westens” dienen. Während wir rational sind, sind sie irrational (religiös), während wir die Gleichberechtigung von Mann und Frau realisiert haben (?) sind Sie patriarchal, während wir aufgeklärt sind, sind sie fundamentalistisch und folgen einem blinden Glauben. Wir haben Demokratie, sie den Scheich oder Diktator, wir haben Polizei und Armee, sie haben die Terroristen, wir sind die Guten sie die Bösen etc. …
Der othering-Prozess der sich aus orientalistischen Quellen speist, der auch heute noch einen “Westen” und einen “Osten” trennt, Menschen in Schubladen steckt und Jahrhunderte alte Muster immer wieder aufkocht ist noch hochaktiv. Er vermischt Stereotype und Vorurteile des Orients mit denen über den Islam bzw. Muslimen. Der anhaltende Orientalismus in Medien und Gesellschaft ermöglicht es Geflüchteten das Recht auf Asyl abzusprechen, arabische Männer pauschal als Frauenfeindlich abzuurteilen, Muslimen die Ausübung ihres Glaubens in der Öffentlichkeit zu verwehren, Menschen zu Demonstrationen zur Verteidigung des “christlichen Abendlandes” aufzurufen, Kriege und tödliche Drohnenangriffe zu legitimieren. Daher ist Vorsicht angesagt.
Auswege aus dem Orientalismus
Orientalistische Muster müssen in ihrer historischen und (post-)kolonialen Kontinuität wahrgenommen und kritisch betrachtet werden. In Kinderbüchern, Filmen, Musikvideos und in unseren Medien. Dazu muss in Schulen und Bildungseinrichtungen aufgeklärt und sensibilisiert werden! Denn gerade der zunehmende antimuslimische Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit gegenüber Asylsuchenden speist sich aus dem modernen Orientalismus.
Transkulturalität verbindet
Ein Gegengift gegen die anhaltende konstruierte Trennung zwischen Ost- und West, Orient und Okzident bietet der Ansatz der Transkulturalität. Er wirkt als “anti-Othering”. Transkulturalität zeigt, dass Ost- und West nie getrennt waren. Dass es immer Wandernde, Händler, Kultur-Vermittler und Kulturtransfer zwischen “Orient” und “Okzident” gab. Städte wie Istanbul oder Bukarest sind historisch gesehen eben beides, Orient und Okzident. Der Orient mit seinen Attributen ist tief in den Okzident eingedrungen und der Okzident hat den Orient entscheidend verändert. Schluss mit den künstlichen Trennungen. Zeit für eine “Zeit der Heilung” und der Entdeckung eines gemeinsamen interaktiven Kulturraums Eurasien – gestern und heute!
Kunst und Humor
Auf dem Webblog REORIENT spielen Künstler mit Mustern und Vorstellungen des Orientalismus. In dem flotten englischsprachigen Forum wird zeitgemäße Kunst aus dem Nahen Osten publiziert. Wie der Name schon andeutet, geht es aber auch darum, das immer noch verbreitete “Orientbild” auf den Kopf zu stellen und mit durch frische und moderne Perspektiven zu ersetzen. Der Nahe Osten soll durch Kunst und Kultur in seiner riesigen Ausdehnung, seiner Diversität und in seiner Vielfältigkeit von kulturellen Reichtümern neu definiert werden. Mehr dazu
- frei zitiert nach: W. Montgomery Watt: der Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter, 1972, S. 101-105 ↩
- W. Montgomery Watt: Der Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter, 1972, S. 101-105 ↩
- Markus Schmitz: Orientalismus, Gender und die binäre Matrix kultureller Repräsentation, in: Regina Göckede/Alexandra Karentzos, (Hrsg.), Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur, Bielefeld 2006, S. 39-66, hier S. 45. ↩
- Richard King: Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ‚the Mystic East”, als PDF abzurufen unter https://foldxx.files.wordpress.com/2011/02/orientalism-and-religion-post-colonial-theory-india-and-the-mystic-east.pdf ↩
- Henrik Wyrwich: Orientalismus in der Popmusik, 2013 ↩
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